Heute könnte es passieren. Am Morgen des Tages, an dem Dirk Nowitzki den 30.000sten Punkt seiner Karriere erzielen soll, reißen ein Dutzend Mitarbeiter des American Airlines Center die riesigen Pappkartons auf, in denen die T-Shirts aus China angeliefert wurden. Die Halle ist leer, die Klimaanlagen summen, irgendwo dudelt ein Radio. Die Mitarbeiter arbeiten sich vom Spielfeldrand langsam nach oben, schweigend und mechanisch hängen sie die grauen Hemden über die Sitze, mit den immer gleichen Bewegungen, wir beobachten das Auffalten, das Ausbreiten, das akribische Geradeziehen. Das Grau der Hemden kommt uns seltsam unfeierlich vor. Der Videowürfel hängt noch dunkel und schweigend über dem Spielfeld. Die Hemdenbrigade arbeitet sich langsam die Ränge hinauf, Level für Level, bis sie ganz oben unter dem Dach angekommen sind, wo das 2011er-Meisterbanner der Mavericks hängt, die Ehrentrikots von Rolando Blackman und Brad Davis. Die Mavericks werden in diesem Jahr die Playoffs verpassen, aber heute könnte es die seltene Möglichkeit geben, einen großen Moment zu erleben, einen großen Moment für Dirk, T-Shirts für eine ganze Halle.
Wir haben unseren Aufenthalt um eine Woche verlängert, damit wir dabei sein können. Der genaue Moment ließ sich nicht voraussagen. Dirk arbeitet weiter wie gewohnt, aber seit drei Spielen reden die Journalisten in der Trainingshalle der Mavericks im Grunde von nichts Anderem mehr. Dirks Saisonschnitt liegt bei unter 12 Punkten, er steht bei 29.980, 20 Punkte braucht er noch. Alle rechnen mit dem Ungewöhnlichen. Das Team spielt mittelmäßig, da sind alle dankbar für Material, das über den Alltag hinausweist. Die Fragen an Dirks Mannschaftskameraden handeln nicht mehr vom Spiel an sich, sondern von diesem historischen Meilenstein. Dirk ist eine lebende Legende, und alle müssen sich dazu positionieren.
Als Dirk beim Shootaround die grauen »30K«-T-Shirts auf allen Plätzen liegen sieht, will er sie sofort abräumen lassen – das ist ihm alles zu viel. Juxt er. Zu viel Aufmerksamkeit, zu viel individueller Schnickschnack, zu viele Bedeutungsebenen über dem ganz normalen Spiel, das er heute Abend spielen will. Heute Morgen macht er seine Witzchen und arbeitet sich durch seine Rituale, heute Abend soll er Geschichte schreiben. Zumindest rechnen alle damit.
Es gibt keinen Weg zurück, und Scott Tomlin, Freund und Pressemann, versucht, ihn zu beruhigen: Es sei halt Dirk-Woche, es gebe den Dirk-Burger, die Dirk-Wurst, am Freitag einen 30K-Bobblehead und am Sonntag den Rookie-Dirk mit Popperscheitel, 90er-Jahre-Anzug und Ohrring. Scott und Dirk frotzeln sich mittlerweile durch ihre xte gemeinsame Saison. »Wenn es heute nicht klappt mit dem Meilenstein«, grinst Scott, denn er weiß, dass er dann noch ein paar Tage länger das Geschimpfe Dirks und die Monothematik der Presse ertragen muss. Und die T-Shirts tragen das Datum des heutigen Tages, »Mavs vs. Lakers Special Edition, 3.7.17« Aber: »No pressure!« – »What a circus!« – »Wenn es heute nicht klappt, dann klappt es eben Freitag. Oder Sonntag.«
Beim Spiel sitze ich dann neben Holger Geschwindner, an seinem Platz ein paar Reihen oberhalb der Bank der Mavericks. Das übliche Ritual: vor dem Spiel ein Pappbecher Bud Light und eine Tüte heiße, gesalzene Erdnüsse. Der American Airlines Center fühlt sich heute Abend anders an als in den Tagen und Wochen zuvor, die Erwartung ist greifbar, die Halle summt jetzt und flirrt und kracht. Dass ich heute hier sitze, hätte ich niemals für möglich gehalten, aber Jessica Nowitzki sitzt heute ganz unten am Spielfeldrand, direkt neben Mark Cuban und keine fünf Meter von der Bank entfernt. Ihr Platz neben Holger ist frei. Wir sitzen und trinken und knacken schweigend Nüsse, und ich denke an den Moment der Meisterschaft, als Geschwindner auch in Miami hinter der Bank der Mavericks saß, immer findbar für Dirk, wenn der zurück in die Auszeit kam, in direkter Blicklinie durch das ganze Getümmel. In Basketballdeutschland weiß eigentlich jeder, wo er gewesen ist, als die Mavericks Meister wurden (ich: Magnet Bar in Berlin). Und wie dann bei der Siegerehrung die Kameras Holger Geschwindner suchten und fanden, die ikonischen Bilder, wie der kluge, knorrige Mann vor Rührung weinte.
Und dann geht alles ganz schnell. The Star Spangled Banner, die Teamvorstellung, das deutlich intensiver als übliche Raunen und Jubeln, das Runterreißen des Trainingsanzugs, der Mundschutz, die High Fives und Fist Bumps und Klappse auf den Hinterkopf. Geschwindner und ich sitzen zwischen den Erdnussschalen und sagen nichts. Mir fehlen die Worte, aber Geschwindner scheint zu wissen, was jetzt passieren wird.
Die Taktik ist offensichtlich. Die ersten Bälle des Spiels gehen zu Dirk, er wirft sie ohne zu Zögern und trifft gleich einen Zweier, und als gleich darauf der erste Dreier sitzt, lässt er einen zweiten folgen, viel zu früh und taktisch vollkommen unklug, ein Heat Check, aber um herkömmliche Taktik geht es in diesen Minuten nicht, und das wissen die Spieler genauso wie wir Zuschauer: Dirk will die Gewissheit, dass die Sache heute zügig erledigt wird. Er will das Ganze hinter sich bringen, und die Halle will dabei zusehen, wie Dirk das Ganze hinter sich bringt.
Coach Carlisle zeichnet die nächsten Plays auf, Yogi Ferrell und Devin Harris bringen den Ball zu Dirk, Dirk wirft, die Lakers wirken zögerlich, fast scheinen sie in Ehrfurcht zu erstarren, als wäre ihnen von Anfang an klar, dass die Geschichte dieses Abends nicht anders zu erzählen ist. Dirk trifft zwei Mitteldistanzwürfe über Tarik Black und Larry Nance Junior, er trifft seine Freiwürfe, wenn er gefoult wird. Auf dem Jumbotron über unseren Köpfen wird ständig eingeblendet, wieviele Punkte noch fehlen. Fünf von fünf. Countdown to 30.000. Ein schneller Trademark-Fadeaway über Larry Nance. Sechs von Sechs.
Als Dirk noch fünf Punkte braucht, stehen die Zuschauer einer nach dem anderen auf. Ein weiterer Dreier, 29.998, noch zwei Punkte, alle oohen und aahen, und im nächsten Angriff ist der Moment dann endlich da. Devin Harris bringt den Ball und findet Dirk auf dem rechten Flügel, er wird ein weiteres Mal gegen Larry Nance Junior isoliert, den jungen Power Forward, und Nance will natürlich nicht derjenige sein, dessen Bild ab gleich in allen Newsflashs und Tweets und morgen in allen Zeitungen und Highlight Reels zu sehen ist. Als vergeblicher Verteidiger, als Statist eines großen Moments. Also verteidigt er, und er verteidigt nicht schlecht.
Die Halle hat sich jetzt geschlossen erhoben, sogar vor Geschwindner und mir stehen die Leute, also stehen auch wir auf. Die meisten halten ihre Telefone in die Luft, sie wollen den Augenblick gleichzeitig erleben und davon erzählen, sie sind stolz und wollen ihren Stolz beweisen können. Donnie Nelson, der Dirk und Holger vor Jahrzehnten einmal entdeckt hat, zumindest geht seine Geschichte so, humpelt den Mittelgang hinauf zu uns, ein jovialer, schwerer Mann im Anzug, mit echter Vorfreude im Gesicht, echter Rührung. Er sagt nichts, aber er nickt Holger zu. In den Sekunden, die jetzt folgen, will er bei Geschwindner sein. Unter seinen Schuhsohlen knacken die Nussschalen.
Dirk hält den Ball ein paar Zehntelsekunden, den Rücken zum Gegner, sein Blick fliegt über die Schulter, er sondiert kurz die Situation, wie er sie schon so oft sondiert hat, er braucht dazu nicht mehr länger als dieses eine Sekundenzehntel. Er sieht alle anderen neun Spieler auf ihren vorherbestimmten Positionen, er weiß, dass er nur noch Larry Nance Junior überwinden muss, also stellt er sich Larry Nance Junior zurecht. Ein, zwei, drei winzige Justierungsschritte, dann hat er ihn da, wo er ihn haben will. Es ist der Moment, in dem alles möglich ist: Der Zug zum Korb, der Pass, der direkte Wurf. Dirk hat hundert Möglichkeiten, hunderttausend Mal hat er das alles durchgespielt, allein mit Holger, allein mit Brad Davis, allein mit sich, vor 500 Zuschauern in Athen, vor 22.000 in Belgrad, vor zig Millionen an den Fernsehgeräten und Computerbildschirmen. Sein Gegenspieler weiß das alles, er ahnt in jedem Schritt den nächsten, in jedem Blick den Pass, in jedem Zucken den Wurf. Das Wahrscheinliche ist am wahrscheinlichsten, und Larry Nance Junior weiß, dass etwas kommen wird, er ahnt, dass es der Wurf sein wird, aber er weiß es nicht. Und Dirk weiß, dass Larry weiß, dass Dirk weiß, dass Junior nur vermuten kann. Die sieben Stufen des Bewusstseins. Und weil Junior nur vermutet, steht er vielleicht einen Zentimeter zu weit entfernt von Dirk, als dieser sich für seine Bewegung entscheidet.
Das alles findet direkt vor der Bank der Mavericks statt. Auf den Videoaufnahmen von diesen Sekunden sehen wir später, dass Dirks Mannschaftskameraden schon halb auf das Spielfeld fallen vor Begeisterung, halt mich zurück!, halt mich zurück!, dass Mark Cuban der Jubel schon direkt hinter der Stirn steht, man sieht das Lächeln und die aufgerissenen Münder der Zuschauer in den Reihen dahinter. Wir sehen die leichte Neigung, mit der Dirk dann halb nach hinten springt, halb lässt er sich fallen, wir sehen den Ball, wie er gleichzeitig genau über den Körper geführt wird, mit der Linken in die rechte Hand, gerade unerreichbar für seinen Gegenspieler, das, was Dirk und Holger »Laden« nennen, wie Dirk sich dann abdrückt und für eine winzige Sekunde außer Reichweite des Verteidigers ist. Wie der Ball die Hand wie auf zwei Schienen über den Zeige- und Mittelfinger verlässt. In den nächsten Tagen werden Holger und Dirk darüber scherzen, dass dieser Treffer reiner Zufall gewesen sei, weil er eigentlich zu weit und zu flach geworfen war, weil Dirk dem Ball nachgestarrt habe anstatt den Ring zu sehen. Und so weiter. Aber der Wurf passt, und die Halle feiert und flasht und verliert den Verstand.
Aber weil der Schiedsrichter ein Spiel nach einem bedeutenden Treffer nicht einfach so mir nichts dir nichts anhalten kann, rollt das Spiel noch einmal hin und her, der Jubel brandet, und im nächsten Angriff der Mavericks kommt der Ball in der Transition mehr aus Versehen zu Dirk, top of the key, und weil jetzt im Grunde nichts mehr schiefgehen kann, weil schon erledigt ist, was erledigt werden musste, lässt Dirk mit einer Täuschung drei hocheifrige Verteidiger durch die Gegend fliegen und trifft einen weiteren Dreier im perfekten Bogen, 47 Grad Einfallswinkel, keinerlei Seitenfehler, das Audiosystem der Halle verstärkt den Swish zu einem Plopp, aber vor kollektiver Euphorie hört niemand mehr zu, der Moment überlagert seine eigene Inszenierung. Dirk hätte heute 20 Punkte gebraucht, um in den Club der Giganten einzutreten, und schon am Anfang des zweiten Viertels, bei neun Minuten und 54 Sekunden Restspielzeit, hat er 23. Underpromise, overdeliver.
Dann Auszeit und Rudelbildung, als er zur Bank kommt. Von unseren Plätzen kann man nicht sehen, wie Cuban sich schreiend vor Begeisterung an Dirk festklammert, wie Dirk unter Schulterklopfern und Umarmungen fast zu Boden geht. Kurz richtet er sich auf und winkt in die Menge, kurz sieht er rüber zu Jessica und dann hoch zu Holger. Und als dann das allgemeine Gehüpfe und Gespringe langsam verflacht, wird auf dem riesigen Würfel über unseren Köpfen ein knallhart kalkuliertes Video eingespielt, das direkt in das Herz der Halle zielt. Die größten Momente dieser ewigen Karriere, der erste Treffer. Die Buzzerbeater, die konstant knallenden Mitteldistanzwürfe, die Dunks der ersten Jahre, all die Dreier. 30.000 Punkte sind sehr sehr viele Punkte.
Gegen Ende des Films wird Steve Nash eingeblendet, der gute Freund der ersten Jahre, eher ein Bruder im Geiste, ein Teil von Dirks Rückgrat, seinem Mut und seiner Liebe zum Spiel, und als Nash ein paar rührende und komische Worte für Dirk und diesen Moment findet, richtet sich die Kamera auf Holger Geschwindner. Und der steht da zwischen Pappbechern und Erdnussschalen und Erinnerungen und Zuneigung und Stolz und wischt sich eine Träne aus dem Augenwinkel. Die Geschichte dreht eine Pirouette, die Zeit ist eine Schleife. Die Bilder gehen um die Basketballwelt, und wenn man ganz genau hinsieht, kann man mich erkennen, gleich links neben Geschwindner, blauer Kapuzenpulli, hellblaues Hemd, leicht verlegenes Grinsen und irrational glücklich, in diesem Moment dabei gewesen zu sein.
Bei der Pressekonferenz nach dem Spiel bemerkt Coach Carlisle, dass heute mehr Presse anwesend sei als in den Playoffs. »It’s a circus.« Dann liefert er eine irrsinnige Lobrede auf Dirk. Carlisle ordnet das, was wir gerade eben gesehen haben, historisch ein, sportkulturell, motivatorisch. »30.000 Punkte sind sehr sehr viel Punkte«, sagt er. Carlisle erwähnt Larry Bird, weil Carlisle Larry Bird immer erwähnt, wenn es darum geht, Dirks Besonderheit zu erklären. Seine Bedeutung für das Team, den Club, die Stadt. Für das Spiel an sich. Kareem Abdul-Jabbar, Karl Malone, Kobe Bryant, Michael Jordan und Wilt Chamberlain. Dirk Nowitzki aus Würzburg-Heidingsfeld.
Als dann Dirk das Podium betritt, macht auch die Journalistenmeute ihre Handyfotos. Dirk scherzt, dass er zur Feier dieses besonderen Tages in der Kabine gerade ein Bud Light getrunken habe, und am nächsten Morgen steht ein Truck mit 30.000 Bud Light vor der Halle. »It’s a circus.« Am nächsten Nachmittag absolviert Dirk nur ein leichtes Training. Freunde und Familie und Mitspieler und Coaches und Journalisten und Fans und Follower gratulieren. Hunderte. Tausende. »It’s a zoo.« Am Abend dann Team-Termin für die Dauerkarteninhaber im Cirque du Soleil im Lone Star Park am Rande der Stadt, »Cabinet of Curiosities«, fliegende Menschen und Steam Punks, Gummikörper und Maschinenmenschen, Freaks und Kraftmeier, Clowns und Helden. Dirk und die Mavericks steigen über eine wackelige Hängebrücke hinunter in die stehenden Ovationen des Zelts. Die Show beginnt, und eigentlich hätte Dirk laut Protokoll zur Pause verschwinden sollen, aber dann bleibt er einfach am Rande der Manege sitzen. Und sieht dem ganzen Zirkus zu.
(Diese Geschichte ist ein gekürzter Auszug aus Thomas Pletzingers erzählerischem Sachbuch über Dirk Nowitzki, seine Arbeit und sein Umfeld, das 2018 im Verlag Kiepenheuer & Witsch erscheinen wird. Über den Titel wird noch lebhaft diskutiert.)