Auf den ersten Blick war alles wie an jedem Spieltag in der Mainzer Opel Arena: die emsige Professionalität von Kabelträgern und Kellnerinnen, Sanitätern und Sicherheitsleuten, das Fundament aller Fan-Vorfreude. Aber vieles war eben auch anders: die familienfreundlichen Preise zum Beispiel und die ungewohnte Unabhängigkeit der allgemeinen Stimmung vom Spielergebnis. An den Endstand konnten sich schon ein paar Minuten nach Abpfiff nur die wenigsten erinnern, als sie an den Kornfeldern vorbei durch die milde Sommernacht in Richtung Heimat schlenderten. Nicht die kalten, harten Fakten bleiben im Gedächtnis, das schnöde Was, das sich in ein Hashtag verpacken ließe. Sondern das Wie und der Austausch darüber, »wie der Dirk läuft, irgendwie … giraffenartig«. Zustimmung, Widerspruch, Gelächter. »Erstaunlich gefühlvoll, diese Flanken von Kretzsche« – und erst die amtlichen Grätschen von Sven Hannawald, den man für einen schwerelosen Milchbubi gehalten hatte! So redete man über diesen Abend wie über jeden anderen Sommerkick unter Freunden auch – bloß dass zu diesem Spaß 30 wirklich prominente Sportler angetreten waren, Weltmeister, Nationalspieler, und 16.175 Fans. Und dass dabei 100.000 Euro rumkamen für den guten Zweck, für die Dirk Nowitzki-Stiftung und Michael Schumachers »Keep-Fighting«-Initiative.
»Come out & enjoy some horrible baseball!«, hatte Dirk eine Woche zuvor nur halb im Scherz als Einladung zu seinem »Heroes Celebrity Baseball Game« in Dallas getwittert – ein ehrliches Urteil über sein Benefiz-Fußballspiel fiele ganz ähnlich aus. Aber das ist ja gerade das Schöne daran. Bei »Champions for Charity« ging es eben weniger um Fußball als vielmehr um das Spielen an sich. Das Aufeinanderprallen verschiedener Sportwelten wurde dabei lustvoll zelebriert: hier das stocksteife 2,13-Meter-Duo Dirk Nowitzki und Jan Jagla, dort der halb so große Fabian Hambüchen. Hier der ewige Bundesliga-Rekordspieler Charly Körbel, dort der Eishockey-Veteran Rick Goldmann bei seinem, wie er schwor, ersten Fußball-Versuch überhaupt. Dann der Wucht-Handballer Pascal »Pommes« Hens und sein Fußballpendant Lukas »Poldi« Podolski, im direkten Vergleich plötzlich ein filigraner Dribbelgott. Und immer wieder Luftlöcher, Pässe ins Seitenaus, Flanken ins Nichts. Da lacht der Laie, und der Fachmann freuet sich.
Der übliche Nachweis technisch-taktischer Brillanz oder auch nur Kompetenz sowie das Streben nach Perfektion waren ausdrücklich nicht Sinn und Zweck dieser Partie. Stattdessen bewiesen Dirk, der unermüdlich wuselnde Mick Schumacher und ihre Mitstreiter, was der Fußball nach wie vor leisten kann, wenn er sich tatsächlich selbst nicht zu wichtig nimmt und anstelle des Profits schlicht der Spaß und die Fans im Mittelpunkt stehen. Und wenn 30 Profisportler ihre eigene Fehlbarkeit feiern, wenn sie stochernd, stolpernd, scheiternd den eigenen Star-Status dekonstruieren. Wenn zwischendurch unerwartet etwas gelingt, was man nicht für möglich gehalten hätte. Wenn sich Superstars als die Menschen zeigen, die sie sind – auf Augenhöhe mit Fans, die ihrerseits nicht nur stumpf die einen anfeuern und die anderen niederbrüllen.
Am Rand des Zelts, in dem Dirk Nowitzki am Nachmittag saß, um Autogramm- und Fotowünsche zu erfüllen, fand diese Begegnung auf Augenhöhe statt. Falls ihm das noch immer irgendwie unangenehm oder unheimlich sein sollte, sah man es ihm nicht an – ein Vollprofi eben. In die sechs, acht, zehn Sekunden pro Kopf packte er das Maximum an möglicher Wärme. Jedes »Hi, servus!«, »Alles gut?« und »Viel Spaß heute!« schien genauso von Herzen zu kommen wie das »Na, mein Junge, schön, dass du am Start bist!«, das er jedem Promikollegen beim Einschlagen und Umarmen zurief. Jedes Mal fand er den Augenkontakt, während er seine Autogramme schrieb und in Handykameras lächelte. Die Konversation ging von ihm aus. »Und? Haben wir das Spiel damals wenigstens gewonnen?«, fragte er, wenn man ihm ein Erinnerungsfoto reichte, oder, ernsthaft beeindruckt: »Really? Youʼre from Dallas?«
»Yessir!«, erwiderten Manny Melendez und seine Frau Jannan im Chor. Ihre Jobs beim US-Militär haben die beiden Mittdreißiger nach Augsburg verschlagen. Ehrensache, dass sie nicht nur das nahe Würzburg kennen, sondern sogar auch die mythische Turnhalle in Rattelsdorf, in der Holger Geschwindner Dirk schliff. »Sorry, ich kann über Dirk nichts anderes sagen als das, was alle sagen«, erklärte Manny ernsthaft ratlos. »Weil es stimmt: Er ist bescheiden geblieben, bodenständig, geduldig, höflich.« Der Ruhm und das viele Geld hätten ihn nicht verändert. »Er ist genau wie du und ich«, schwärmte Manny. »Na ja, außer dass er eben NBA-Champion und MVP ist. Und 30.000 Punkte erzielt hat.« In Dallas gebe es keine Autogrammstunden mehr mit Dirk, sagte Manny. Zu großer Andrang, zu hohe Tumultgefahr.
Also kam Dallas zu Dirk nach Mainz, gleich mehrmals innerhalb weniger Minuten. Der Security-Mann an Dirks Seite mochte der jungen Frau im roten Sommerkleid zu verstehen gegeben haben, dass Dirk ihren Wunsch nach einem Video nicht erfüllen könne, aber Dirk war hier der Chef, und Dirk sagte: »Dein Freund ist Ami? Na dann … Kamera läuft? Wie heißt er denn?«, und dann guckte er direkt ins Smartphone der Dame: »Hey, Victor, this is Dirk. Greetings to Dallas!« Und die Frau im roten Kleid schwebte davon, sichtlich beglückt.
Diese Beweise, dass Fußball auch anders geht, kamen gerade zur rechten Zeit. Persönlicher, direkter. Denn obwohl der FC Bayern zum fünften Mal in Folge deutscher Meister ist und Real Madrid zum dritten Mal in vier Jahren Champions-League-Sieger, sind der Mangel an Abwechslung, seine ermüdende Berechenbarkeit noch die kleinsten Probleme des Profifußballs. Wer dieser Tage vom Fußball liest, liest von Gianni Infantinos zu kleinem Privatjet, von den Weltmeisterschaften in Russland und Katar, von den dortigen Demokratie-Defiziten und Menschenrechtsverletzungen. Vom chinesischen U20-Team in der Regionalliga Südwest, von GoPros an Weißbiergläsern, von Helene Fischers Auftritt in der Pokalfinal-Halbzeit. Das entfremdet den Fußball vom Fan, es geht nicht mehr um »the beautiful game«, »o jogo bonito«, wie das Spiel seit 1977 weltweit voller Liebe genannt wird, seit Edson Arantes do Nascimento, besser bekannt unter dem Namen Pelé.
Den Organisatoren von »Champions for Charity« gelang es dann aber, die Seele des Spiels zu beschwören. Der Mix aus Familienfest, Stiftungsarbeit und Schaulaufen der Stars passte, der sportliche Kern wirkte im besten Sinne wie Gebolze unter dramatisch ungleich begabten, aber ebenbürtig enthusiastischen Freunden. Es gab keine Meisterschaft zu gewinnen, nur einen Blumentopf und Freunde.
»Man sollte Sport treiben, ohne vom Sport getrieben zu werden«, hat der Aphoristiker Gerhard Uhlenbruck erkannt – und dass man nicht der Bessere werde, indem man den Gegner verzwerge. Das klingt wie eine Umschreibung gleich mehrerer der anwesenden großen Sportsmänner, von Dirk über Miroslav Klose bis hin zu Gerald Asamoah. Sie alle beweisen, dass der alte Grieche Diogenes von Sinope etwas arg hart war, als er vor fast zweieinhalbtausend Jahren warnte: »Sport ist von Nutzen, bis deine Wangen sich röten. Danach ist er schädlich und zerstört den Verstand.« Im Grundsatz aber ist diese Mahnung vor den Auswüchsen des Profisports ja aktueller denn je: Entschleunigung ist gefordert, Druck muss vom Kessel, Ballast vom Ballon. Wegkommen vom Wettkampfgedanken, back to the roots von Fairplay und Bewegung. Kicken, weshalb Kinder kicken. Nicht um zu trainieren, sondern um sich auszutoben, auszuprobieren, zu spielen eben. Fußball um des Fußballs willen, Lʼart pour lʼart.
Dirks Bereitschaft zur fußballerischen Wurstigkeit war ebenso groß wie der beeindruckende Wille des Altmeisters und Neu-Coachs Miroslav Klose, in jedem einzelnen Angriff seine Torinstinkte niederzuringen und wieder und wieder und wieder seine Mitspieler in Szene setzte, anstatt sich der »muscle memory« seiner Füße zu ergeben und ohne die geringste Anstrengung zehn, fünfzehn, zwanzig Buden zu machen.
Was bleibt von einem solchen Spiel außer den erwähnten 100.000 Euro für die »Keep-Fighting«-Initiative von Michael Schumacher gegen das Aufgeben in den kleinen und großen Kämpfen sowie die Dirk Nowitzki-Stiftung, die Kinder aus sozial schwachen Familien unterstützt? Vielleicht die Beschwörung der Unschuld, des puren Spaßes an der Freude von Athleten wie auch Zuschauern. Ein vielleicht uncooles, aber letztlich edles Motiv. Beim Benefizkick spielt sich der Sport seine Einfachheit zurück: Der Fairplay-Gedanke ist greifbar, niemand nimmt hier zum eigenen Vorteil Verletzungen seines Gegenspielers in Kauf – Kai Pflaumes blutige Attacke gegen Stefan Kretzschmar vielleicht ausgenommen, aber der kann es vertragen. Schwalben sind heute humorige Querverweise. Was, wenn nicht eine Anklage des vorgetäuschten Gefoultwordenseins, war Dirks »Schutzschwalbe«, die ihm einen Elfmeter einbrachte, den er standardmäßig scham- und humorlos ins Tor knallte? »Ich habe so oft bei den Profis zugeguckt, wie das geht«, sagte er danach grinsend ins Mikrofon, ein schöner Diss der fußballeigenen Unsitte, die dazugehört, wo nur das Ergebnis zählt.
Die verschwitzte Leichtigkeit, die fast jeder aus Schülertagen kennt, von mehr oder weniger improvisierten Spielfeldern, mit oder ohne Tore, ist weit entfernt vom Profifußball des 21. Jahrhunderts, der losgelöst ist von der Welt derjenigen, die ihn hauptsächlich finanzieren: Karten und Trikots, Wurst und Bier werden Jahr für Jahr teurer. An diesen Kleinigkeiten wird deutlich, wohin der Fußball steuert: Es wird weniger gespielt, dafür besser kalkuliert und inszeniert, Sport ist eine Spielart des Pop.
Klar ist aber auch: Die Seele des Spiels lebt. Denn Fußball wird von sehr viel mehr Menschen gespielt als von ein paar Hundert Profis, die sich von ihren Fans auf allen denkbaren Ebenen immer mehr unterscheiden. Fußball, das sind in Deutschland vor allem die sieben Millionen Mitglieder der mehr als 25.000 Dorfvereine von A wie Aach bis Z wie Zyfflich, keine AGs oder GmbH & Co. KGs, sondern e.V.s mit oft erdigen Namen. Männer und Jungs, Mädchen und Frauen, Arbeiter und Akademiker aller Nationalitäten und Religionen kicken und trinken, fluchen und versöhnen sich in Klubs wie Fichte Bielefeld und Vorwärts Kornharpen, Komet Steckenborn und Krokusblüte Drebach, Eiche Reichenbrand und Doppeleiche Jagel, beim ESV Rangierbahnhof und bei Grubenlampe Zwickau. Noch schöner ist nur der Name des niederländischen Klubs AGOVV Apeldoorn. Die Abkürzung des Vereins, bei dem einst der heutige Dortmund-Coach Peter Bosz spielte, steht für »Alleen Gezamenlijk Oefenen Voert Verder« – zu Deutsch: »Nur zusammen üben führt weiter«. Wobei man natürlich argumentieren kann, dass der beliebte deutsche Vereinsbeiname »Sportfreunde« denselben Geist atmet.
Apropos beschaulicher Breitensport: Miroslav Kloses Karriere startete spät, er spielte zehn Jahre lang für seinen Heimatverein SG Blaubach-Diedelkopf, und wie er haben viele Spieler angefangen. Karl-Heinz »Charly« Körbel spielte beim FC Dossenheim, Dirk bei der DJK Würzburg, Nikolče Noveski beim FK Pelister Bitola in Mazedonien. Und auch als sie zum FSV Mainz gingen, zu Eintracht Frankfurt oder den Dallas Mavericks und dort mit Leistung und Loyalität zu Legenden wurden, haben sie alle ihre Anfänge nie vergessen, nie dem Hype geglaubt, der um sie veranstaltet wurde.
Alles in allem war es ein Spiel, wie es Yves Eigenrauch gefallen hätte, dem Schalker »Euro-Fighter«, der neulich in einem bemerkenswerten Interview erklärte, er könnte nirgendwo glücklicher sein als in seiner Mietwohnung im Ruhrgebiets-Städtchen Marl, die doch so luxuriös groß sei, dass er den Staubsauger beim Saugen umstöpseln müsse. Pflichtspiele hätten ihm wenig Spaß gemacht, beteuerte der Profi wider Willen. »Im Training konnte man auch mal Blödsinn machen, Steinchen oder Kastanien sammeln beim Ausdauerlauf zum Beispiel.« Angewandter Unfug eben. Es sei nicht die Kommerzialisierung des Fußballs, die ihn störe, korrigierte Eigenrauch den Interviewer sanft, sondern »die Professionalisierung der Kommerzialisierung«.
Das Benefizspiel von Dirk Nowitzki und Mick Schumacher war ein Gegenentwurf dazu, ein altmodischer Bolzplatzkick unter munter zusammengewürfelten Freunden des Sports, unter Feinden der Unsportlichkeit. Gründlich entschleunigt, gesundgeschrumpft auf das Spiel, als das es eigentlich gedacht ist. »Der Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Worts Mensch ist«, hat sich schon Schiller erschlossen, »und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt.« Dieser Benefiz-Kick war trotz aller fußballerisch fragwürdigen Momente ein »beautiful game«. Weil es um nichts ging außer um die Liebe zum Spiel selbst. Und das Weiterleiten dieser Liebe an den guten Zweck. Der Schlusssong »Footballʼs coming home« war selten passender. Während sich die Spieler noch abklatschten, umarmten, herumschubsten, malte jemand mit Freistoßspray ein Herz auf den Rasen.