Manchmal gibt einem der Zufall Antworten, ehe man seine Fragen gestellt hat. Der Taxifahrer, der mich vom Flughafen Dallas zum Hotel bringen soll, heißt Haile, ist Mitte vierzig und stammt aus Eritrea. Er glaubt an Gott, Großzügigkeit und Dirk Nowitzki. Haile trägt ein blaues T-Shirt mit Nowitzkis 41. Sein Taxi riecht nach Süßholz, an seinem Rückspiegel baumelt ein Rosenkranz aus blau-weißen Plastikperlen, die Farben der Dallas Mavericks. Auf seinem Armaturenbrett klebt eine elfenbeinerne Plakette, der heilige Christophorus, Schutzpatron der Autofahrer. Direkt daneben: eine goldgerahmte Autogrammkarte von Dirk Nowitzki mit langen Haaren und Stirnband.
Nowitzki ist der Grund, warum ich nach Dallas gekommen bin, aber davon weiß der Taxifahrer nichts, als er »Saint Dirk« sagt und lächelt, »savior of Dallas basketball«. Der Verkehr ist dickflüssig, die Sonne steht steil auf dem Asphalt, die Klimaanlage des Taxis jammert. Haile hupt und jubelt und reicht mir Lakritz. Warum ich nach Dallas gekommen sei, fragt er. Ich sei hier, um Dirk Nowitzki zu treffen, erkläre ich und nicke Richtung Armaturenbrett, Richtung blau-weißer Rosenkranz, es seien ja jetzt Play-offs. Haile dreht sich in voller Fahrt um und starrt mich fassungslos an. »You’re meeting Dirk? Are you fucking joking?«
Wie viele andere habe auch ich einmal von einer Basketballkarriere geträumt. Die Träumerei aufgegeben habe ich 1994, als man zum ersten Mal Gerüchte von einem talentierten Spargeltarzan aus Würzburg hörte, Jahrgang 1978, knapp zwei Meter groß, sehr beweglich und mit exzellentem Wurf. In den Turnhallen erzählte man sich, dass er das Zeug zum besten Spieler Deutschlands habe. Ein paar Jahre später sah ich Nowitzki dann zum ersten Mal tatsächlich spielen, Brandt Hagen gegen Würzburg, es muss 1998 gewesen sein. Das Spiel war nicht ausverkauft. Nowitzki war jetzt 2,13 Meter und musste sich schon damals nicht mehr an die Rollen und Regeln halten, an die man in Deutschland glaubte: Große und schwere Spieler unter den Korb, kleine und schnelle nach außen. Nowitzki konnte alles. Er war groß, schnell und clever, er konnte von überall werfen und treffen, er dribbelte und fand seine freien Mitspieler – er beherrschte das Spiel auf allen Ebenen. Nowitzki schien die Struktur des Spiels besser lesen zu können, er schien schneller zu denken. Er war anders als alle anderen Basketballspieler, die wir damals kannten. Mein altes Team gewann das Spiel gegen Würzburg, doch wir hatten die Zukunft des Spiels gesehen.
Basketball hat mich nie in Ruhe gelassen. Ich liebe das Spiel, das ich nur noch selten spiele. Ich bin Enthusiast, in seltenen Momenten bin ich Fan. Wenn ich Basketballspiele sehe, ist da eine melancholische Begeisterung, eine freudige Nostalgie, eine angenehme Trauer um die Dinge, die einmal möglich schienen, aber nie geschehen sind. Solche wie mich gibt es viele: Nostalgiker und Statistikliebhaber, theoretische Sportler. Dirk Nowitzki ist unser Stellvertreter. Er ist alles, was wir niemals geworden sind. Nur viel, viel besser.
In Deutschland ist Dirk Nowitzki bekannter als das Spiel, das er spielt. Er ist berühmt, weil er berühmt ist. Seit Jahren wirbt er für eine Bank und eine Sportmarke. Er sitzt bei »Wetten, dass..?«. In den USA ist Nowitzki ein echter Superstar. Er gehört zu den absolut Besten einer uramerikanischen Sportart. Die eigenen Fans lieben Nowitzki, die gegnerischen fürchten ihn. Zu Recht. Journalisten und Kulturwissenschaftler schreiben über das Faszinosum Nowitzki. Angela Merkel empfängt ihn im Kanzleramt, Barack Obama empfängt ihn im Weißen Haus. Nowitzki ist der beste Europäer, der jemals das Spiel gespielt hat. Er ist der beste weiße Basketballer seiner Zeit. Er war wertvollster Spieler der Finalserie, Fahnenträger bei Olympia, Allstar, NBA-Champion. Sein Spiel hält dem immensen Sportwissen Amerikas stand – statistisch, taktisch und historisch. Mehr noch: Nowitzki hat ein amerikanisches Spiel grundlegend verändert, er hat es revolutioniert. Basketball nach Nowitzki ist anders als Basketball vor ihm: beweglicher, variabler, weniger erwartbar, feiner, raffinierter.
Ich bin in Dallas, um von Nowitzkis Bedeutung und den Gründen dafür zu erzählen. Es gibt unfassbar viele Texte zu Nowitzki, es gibt Biografien, es gibt Hunderte Interviews und Porträts. Dirk Nowitzki steht in der Gala, im Goldenen Blatt und in der FIVE. Die Geschichte, die erzählt wird, ist immer ähnlich: Ein Junge aus Würzburg wird allen Widerständen und Unwahrscheinlichkeiten zum Trotz einer der besten Basketballer der Welt. Mit der Hilfe eines verschroben-genialischen Mentors geht er unkonventionelle Wege, trainiert in der Zurückgezogenheit einer oberfränkischen Schulturnhalle und erreicht schließlich sein großes Ziel. Es ist eine Legende, eine Heldengeschichte mit verzeihbaren Scharten. Und ich bin hier, um etwas Neues zu erzählen.
Helden müssen sich schützen. Das System Nowitzki ist ein geschlossenes. Dirk und ich haben zwar gemeinsame Freunde – Mithat Demirel, seinen Zimmergenossen bei der Nationalmannschaft, und Rekordnationalspieler Patrick Femerling –, aber es gibt ungeschriebene Gesetze, und Nowitzkis Mannschaftskameraden würden sich eher ihre Wurfhand abhacken, als seine Telefonnummer zu verraten. Es blieben die offiziellen Wege. Wenn ich erst mal in Dallas bin, so habe ich gehofft, wird das eine zum anderen führen. Die Pressechefin der Mavericks hat mir ein Interview mit ihm zugesagt. Zehn Minuten nach dem Spiel. Heute Abend.
Ich habe mir Fragen notiert: nach seinen Ritualen. Nach der Langeweile des Lebens als Profisportler. Der Bedeutung seiner Hautfarbe für seine Berühmtheit, der Bedeutung von Rasse im Sport. Ob ihn manchmal Geldsorgen plagen (die Sorge, was man mit knapp zwanzig Millionen Dollar pro Jahr anfangen soll). Wie man vierzehn Jahre lang die Konzentration bei der Arbeit so unfassbar hoch hält. Ob Basketball ihm immer noch Spaß bereitet. Ob man für andere Prominente Sympathie empfindet (oder nur dasselbe Leid teilt). Ob er zur Motivation wirklich Joseph Conrads Taifun liest. Wie er seine Position in der Basketballgeschichte sieht. Wann der erste Paparazzo vor seiner Tür aufgetaucht ist. Was man denkt, wenn die Bild-Zeitung Polizeifotos der Exfreundin druckt oder wenn sämtliche Zeitungen über die Steuerangelegenheiten seines Mentors Holger Geschwindner berichten. Ob er so bodenständig ist, wie alle sagen. Wie oft er das alles verflucht. Was ihn am meisten schmerzt. Wem man vertrauen kann. Was echt ist und was falsch.
Jetzt rase ich mit einem Taxi durch Dallas, und Haile beantwortet mir sämtliche Fragen mit Enthusiasmus. Er hat den Highway verlassen und fährt auf Schleichwegen zum American Airlines Center: Wohngebiete, Industriebrachen, Kakteen, ein ausgetrocknetes Flussbett. Parkplätze, Hochhäuser, Parkplätze.
Haile weiß alles über Dirk. Wir hauen uns die großen Momente seiner Karriere um die Ohren: Haile erzählt von Indianapolis 2002, Deutschlands Weltmeisterschaftsbronze, diesem gigantischen und unerwarteten Erfolg. Nowitzki wurde zum wertvollsten Spieler des Turniers gewählt. Ich erzähle vom Europameisterschaftsfinale 2005 und wie das Publikum in der Belgrad-Arena kurz vor Ende des verlorenen Finales gegen die Griechen geschlossen aufstand und minutenlang applaudierte, als Nowitzki ausgewechselt wurde. Oder Dirk nach der verlorenen Meisterschaft 2006: wie er in den Katakomben verschwindet, die Hände über dem Kopf, als habe er gerade einen Schlag in den Magen bekommen, als ringe er um Luft. Dirk Nowitzki hat in den letzten vierzehn Jahren für etliche solche Augenblicke gesorgt.
»Here we are«, sagt Haile und parkt an der Victory Lane. »The house that Dirk built.«
Ein riesiges Banner zieht sich über das Eingangsportal der Arena, darauf ein brüllender Dirk und der Play-off-Schlachtruf der Mavericks: Dallas is all in. Haile lacht sein gläubiges Lachen: »Welcome to the church of Nowitzki.« Er ist sich sicher, dass Dirk heute gewinnen wird. Er rechnet fest mit ihm. Und mir wird klar, dass ich nicht nur für ein Interview nach Dallas geflogen bin: Ich will Zeuge einer Heldentat werden. Haile öffnet mir die Tür und gibt mir seine Karte. »Ein Freund von Dirk ist ein Freund von mir«, sagt er. »Ruf mich an.«
Die Plaza vor dem American Airlines Center ist bis auf ein paar Lieferwagen leer, die Sonne brennt, wie die texanische Sonne eben brennt. Vor einem klimatisierten Fanshop warten zehn, fünfzehn Verkäufer auf Kundschaft. Alle tragen blaue T-Shirts mit dem Play-off-Slogan. Eine freundliche Dame mit einem seniorenblau toupierten Haarhelm führt mir das komplette Nowitzki-Sortiment vor: Es gibt Nowitzki-Trikots, -Hosen, -Hemden, es gibt Stirnbänder, Rucksäcke, Pantoffeln und Schlafanzüge, Becher, Schlüsselbänder, Basecaps, Wollmützen, Panamahüte. Es gibt Dirk-Nowitzki-Bierkrüge. Außer mir ist nur noch ein Kunde hier. Er trägt ein grünes Polohemd und fotografiert zwei verloren wirkende Trikots von Nowitzkis Mannschaftskamerad Yi Jianlian. Der Mann im grünen Polohemd ist Pari Dukovic, der Fotograf dieser Geschichte. Pari sieht aus, wie man sich einen Fotografen vorstellt, drei Kameras um den Hals, eine Tasche voller Filmrollen. »This Dirk-guy is famous, right?«, sagt er und macht ein paar Bilder von Dirk-Mülleimern. Pari ist kein Sportfotograf und kennt sich mit Basketball nicht aus. Aber er will nah ran. Meist fotografiere er Mode, Politiker, Burlesk-Künstler, sagt er, am meisten interessiere ihn aber, was hinter den Bühnen passiere. Die grobkörnigen Geschichten von leuchtenden Menschen. Mich auch, sage ich. Wir geben uns die Hand, wir arbeiten jetzt zu zweit.
Auf Monitoren laufen die Highlights der Meistersaison. Dirk wirft und trifft. Die Mavericks schalten zuerst Portland aus, dann das junge Team der Oklahoma City Thunder, dann die Los Angeles Lakers mit Über-Star Kobe Bryant und schließlich die Miami Heat. Dirk verschleißt seine Verteidiger reihenweise. Gegen kleine Gegenspieler wirft er, gegen große spielt er seine Beweglichkeit aus, er ist in allen Belangen überlegen. Er hält dem Druck stand, er wächst mit ihm. Nichts hilft gegen seine Dominanz. »Außerirdisch!« – »Ridirkulous!« Immer wieder sieht man seinen einbeinigen Sprungwurf im Rückwärtsfallen, den flamingo fade-away, der von keinem Gegenspieler der Welt zu verteidigen ist. Nowitzki spielt mit Fieber und gerissener Sehne im Finger. Man sieht ihn mit dem Meisterpokal, man sieht ihn mit der Trophäe für den besten Spieler der Finalserie. Das war vor einem Jahr, erkläre ich Pari, der den Bildschirm fotografiert, jetzt sind wieder Play-offs, die Mavericks spielen mit einer anderen Mannschaft und haben die ersten beiden Spiele verloren. Ein Jahr verändert alles.
Die Parkplätze füllen sich, die Halle wird geöffnet, und als das Spiel beginnt, stehe ich mitten in einer unfasslichen Begeisterung für Dirk, Dirk, immer wieder Dirk, aber schon im ersten Viertel lässt das Spiel selbst die Luft aus der perfekten Inszenierung. Es läuft nicht rund, auch nicht bei Nowitzki. Ich bin zu müde, um die komplexe taktische Textur dieses Spiels zu begreifen, aber ich sehe, dass die Mavericks verlieren. Dirk wird ausgewechselt. Die zweite Halbzeit verbringe ich in der Pressebox unter dem Hallendach und sehe das Spiel außer Reichweite geraten. Die Mavericks und ich finden keinen Zugang zum Spiel. Ich höre das frenetische Tippen der amerikanischen Journalisten um mich herum, notiere Spielstände, und als ich wieder aufsehe, ist das Spiel vorbei und verloren, 79:95.
Pari und ich sitzen im Presseraum und warten auf Dirk, der nach jedem wichtigen Spiel vor die Journalisten treten muss. Aus dem Interview werde heute leider nichts mehr, sagt mir die Pressesprecherin, nicht nach so einer Niederlage, aber ich hätte 25, vielleicht 30 Sekunden nach der Pressekonferenz, um mich vorzustellen. Nowitzki beantwortet sämtliche Fragen in sichtlich angestrengter Höflichkeit, und als er den Presseraum frustriert verlässt, renne ich hinterher und stelle ihm im Gang – ohne mich vorzustellen – eine Frage, die zu dämlich ist, um sie hier aufzuschreiben. Nowitzki sieht mich entgeistert an, sammelt sich aber sofort wieder und unterschreibt den Basketball eines kleinen Jungen. »Good night, buddy«, sagt er. Dann ist er verschwunden.
Zwei Tage später stehen die Mavericks mit dem Rücken zur Wand – wenn sie verlieren, sind sie raus. Am frühen Morgen laufe ich zur Arena. Dirks Gesicht an der Hallenfront sieht entschlossener aus als noch vor zwei Tagen, ausgeschlafener. Unser Treffen wurde mittlerweile fünf Mal verschoben. Dirk brauche seine Konzentration, wird uns gesagt. Stattdessen spreche ich mit Busfahrern, Ticketverkäufern und Betrunkenen (jeder hier nennt ihn Dirk, mit ö). Es ist immer dasselbe: Dirk ist unglaublich, Dirk ist nett, Dirk ist einer von uns. Das Securitypersonal grüßt auf Deutsch.
Am Morgen des entscheidenden Spieltags ist Donnie Nelson unser Ersatz für Dirk. Nelson ist General Manager der Mavericks und hat Nowitzki 1998 nach Dallas geholt. Er sitzt in seinem Büro zwischen Papierstapeln, Pokalen und Erinnerungsfotos und kommt sofort zur Sache. Ungefragt erzählt er, wie fürchterlich Dirks erstes Jahr hier war. Pfiffe von den Zuschauern, Schmähungen in den Zeitungen, ligaweiter Spott. Nelson lehnt sich zurück, er sieht an den Wänden entlang, an den Sports Illustrated-Titelseiten und Mannschaftsbildern, an den Pokalen. Plötzlich wirft er völlig ansatzlos ein glitzerndes Ding in meine Richtung. Nur mit Glück fange ich das Teil. Nelsons Lachen ist lauter als erwartet. Ich halte einen Meisterring der Mavericks in der Hand, Gold und Diamanten, 50.000 Dollar pro Stück. »Ein Test«, sagt Nelson, ich hätte gute Hände.
Was Dirk denn nun wirklich für Dallas bedeutet? Nelson überlegt keine Sekunde: »Dirk hat Dallas verändert, ökonomisch und kulturell. Die Mentalität. Er verdient ein Denkmal, ganz einfach.« Donnie Nelson ist für einen kurzen Moment ernst. »Mehrere«, sagt er, »Dirk verdient mehrere Denkmäler.«
Als wir die Kabine betreten, befiehlt mir Nelson, mich auf Dirks Platz zu setzen, auf Dirks riesigen Ledersessel, zwischen Dirks Socken und Schuhe. Er nimmt sein Trikot mit der 41 vom Bügel und überreicht es mir feierlich. Es ist das Trikot, das Dirk heute Abend tragen wird. Dirk Nowitzkis Trikot, denke ich, überrascht von meiner eigenen Feierlichkeit.
Nachmittags dann Holger Geschwindner bei Starbucks: Mad Professor, Genie im Flanellhemd, rätselhafter Querkopf, Entdecker Nowitzkis, Mentor, Freund und – wenn es so etwas gibt – sein Schöpfer. Vor ihm eine leere Kaffeetasse. Das Spiel heute Abend scheint ihn nicht nervös zu machen. Er sei hier, um Dirks Wurf zu korrigieren, wenn nötig. Seit Jahren benutzen sie ihre eingespielten Zeichen, »höher werfen« und »Finger auseinander«. Er sei hier, um auf seinem Platz zu sein, wenn Dirk ihn braucht.
Wenn man sich mit Holger Geschwindner unterhält, ahnt man, warum Nowitzki schon so lange auf allerhöchstem Niveau spielt. Man ahnt es, aber man weiß es nicht. Er hat den jugendlichen Dirk unter seine Fittiche genommen und einen Sieben-Stufen-Plan zur Erschaffung dessen entwickelt, was Dirk heute ist. Geschwindners Methode ist ein Komplettpaket aus Mathematik, Psychologie, Bildung, Disziplin und plausiblem Aberwitz. Geschwindner war der Kapitän der Olympiamannschaft 1972, hat Physik und Mathematik studiert und wohnt auf einem Schloss bei Bamberg.
Im Gespräch klappt er bisweilen seinen Rechner auf. Auf dem Bildschirm bewegt sich dann ein Strichmännchen mit Dirk Nowitzkis genauen Körperproportionen. Die Winkel- und Kurvenberechnungen zeigen, wie der ideale Wurf aussieht. Es geht darum, in welchem Winkel Nowitzki werfen muss, damit er auch dann trifft, wenn er Fehler macht. Geschwindner spricht von Basketball und Jazz, von Till Brönner in der Turnhalle, von Faulkner und Froschsprüngen. Manchmal hält Geschwindner mitten im Gespräch inne, sieht ins Leere und schreibt sich einen Gedanken in sein Notizbuch.
Holger Geschwindner fordert einen heraus und will herausgefordert werden. Er scheint Herausforderungen zu lieben. Er ist sich nicht sicher, ob man über Nowitzki angemessen schreiben kann. Ob es passende Worte gibt für das, was Dirk seit Jahren tut. Man müsse da eine eigene Sprache entwickeln. Geschwindner vergleicht Dirk mit einem Extrembergsteiger und dessen extremen körperlichen und mentalen Anforderungen, die zu erfassen konventionelle Sätze nicht ausreichen. »Wenn man mal auf einem Sechstausender war, weiß man, was das Hirn da veranstaltet«, sagt er. »Das zu beschreiben ist schwierig. Dirk befindet sich seit Jahren in sehr großen Höhen. Wer solche Erfahrungen macht, dem fehlen oft die Worte, und umgekehrt: Worte ohne Erfahrung sind meist zu wenig.«
Ich sehe mich um. Die Kulisse ist beeindruckend und surreal, Kameras auf dem Spielfeld, alle sechs Ebenen plus Presse- und Promiboxen sind ausverkauft, geschminkte Dekolletés, das Star-Spangled Banner, dann das Coca-Cola-Two-Minute-Warning. Dallas is all in. Kurz vor dem Sprungball sehe ich Paris grünes Polohemd zwischen den Spielern herumschwirren. Die Mavericks spielen, um die Saison und ihre Ehre zu retten, und er macht Bilder aus allernächster Nähe.
Heute läuft alles über Dirk. Die Halle trägt Blau, sie schwenkt blaue Handtücher. Sie raunt, wenn er den Ball bekommt, sie brüllt, wenn er gefoult wird. Die Mavericks isolieren ihn und geben ihm den Ball, und er wird der Verantwortung gerecht. Er kann ausblenden, dass die Welt ihn beobachtet. Er liefert ein richtig gutes Spiel ab. Zu Beginn des letzten Viertels führen die Mavericks mit dreizehn Punkten, 81:68, aber dann brechen die Dämme. Oklahoma holt Punkt um Punkt auf, und kurz vor Schluss gehen sie in Führung. Die Halle wirkt geschockt. Als Dirk eine halbe Minute vor Schluss per Freiwurf seine Punkte 33 und 34 erzielt, als der Hallensprecher ein letztes »Dööörk« durch die Halle ruft und die Uhr unaufhörlich auf das Ende der Saison zuläuft, wird es still und stiller. Es reicht nicht, Dallas scheidet aus, 97:103.
Auf dem Weg in die Kabine dann wieder Dirks Pose: die Arme erhoben, als müsse er sich von den Schlägen erholen. Die Presse folgt den Spielern in die Kabine, es herrscht betretenes Schweigen. Keine Fotos, keine Autogrammanfragen. Die Spieler kommen einer nach dem anderen aus der Dusche, die Pressemeute umkreist sie und stellt ihre tristen Fragen. Die Spieler tragen Handtücher mit Gummizug und ihrer Trikotnummer um die Hüften, die Meute treibt von einem zum anderen durch die Kabine. Als Dirk aus der Dusche kommt, ein gebückter Held, beißt das Rudel zu. Alle Kameras und Mikrofone auf Dirk, man kann ihn nicht sehen, aber sein Handtuch fliegt und landet im Dreckwäschetrog in der Kabinenmitte.
Am Morgen die letzten Gespräche vor der Sommerpause. Die Mavericks haben das wichtigste Spiel des Jahres verloren. Trainer, Manager und Spieler treten ein letztes Mal vor die Presse, es liegt Wehmut in der Luft. Nowitzki antwortet höflich, aber ein paar Fragen klingen dringlich, als könne er die Lage noch ändern. Auch Kritik ist dabei. Dann arbeitet sich Dirk Nowitzki die Treppe hoch, ein trauriger Heiland in T-Shirt und Flipflops. Die Journalisten sehen ihm nach, »here goes another year of Dirk«, sagt einer.
Aus der Nähe kann man Erleichterung und Erschöpfung in seinem Gesicht nicht unterscheiden. Dirk Nowitzki sitzt in der Teeküche der Mavericks und redet, jetzt hat er Zeit. Gestern Abend hat er noch Basketball auf Weltniveau gespielt, jetzt ist Sommer. Kurz seufzt er, die Fragen der Journalisten nach seinen Knien, seinem Alter, dem Scheitern, seinem Karriereende hallen nach. »Ich mache das jetzt schon lange genug«, sagt er. »Ein paar von denen muss man runterkochen, ich gebe da kein Material.« Jemand bringt Wasser, wir wechseln ins Deutsche. Niemand hört uns zu. Was er gestern Abend noch gemacht habe, frage ich. »Ich habe mir Fast Food reingezogen«, sagt er. Er grinst. Während der Saison isst er kein rotes Fleisch, trinkt keinen Alkohol und hält sich an Fisch und Huhn. »Normalerweise wären wir weggegangen. Aber das gestern kam so schnell und abrupt, ich war einfach nicht in der Lage, da noch Leute zu sehen. Also Burger, Fries und Milchshake. Dann habe ich noch das andere Spiel gesehen, San Antonio gegen Utah.«
Dirk Nowitzki macht Pausen, seine Antworten sind ehrlich, aber er ist sich immer bewusst, was er zu sagen hat und welche Anekdote bei welchem Fragesteller funktioniert. Er sagt: »Interviews und Fotoshoots und Werbedrehs sind jetzt nicht meine Lieblingsdinge.« Und: »Wenn ich in ein Restaurant gehe und alle applaudieren, ist mir das immer noch peinlich.« Wir sprechen über seine Gegensätze, über Texas und Würzburg, seine neue und seine alte Welt, wo immer noch vieles so ist wie früher, »es gibt noch den Edeka und das Sonnenstudio«. Er wohnt tatsächlich noch bei seinen Eltern, erst nach der Meisterschaft haben sie das Bad umgebaut, sodass er sich jetzt beim Zähneputzen nicht mehr bücken muss. Wir reden und reden, und irgendwann kommt die Pressefrau und ruft ihn zum nächsten Termin. Im Hintergrund hört man seine Mannschaftskameraden krakeelen, im Hintergrund wird ein Abschiedsbier getrunken.
Um Nowitzkis Bedeutung zu verstehen, muss man weite Kreise ziehen. Ende August treffe ich Wolf Lepenies, den Soziologen, Historiker und Friedenspreisträger des Deutschen Buchhandels. Berlin ist nur halb so heiß wie Dallas, aber die Fenster des Wissenschaftskollegs in Grunewald stehen sperrangelweit offen. Hinter der Villa steht ein Basketballkorb.
Lepenies, Jahrgang 41, hat als junger Mann für Rot-Weiß Koblenz gespielt, Punkterekord 48 Punkte. Wie Basketball richtig zu lesen und zu verstehen ist, hat ihm der Über-Ethnologe Clifford Geertz bei den Spielen der Princeton Tigers beigebracht. Er hat in New York Bill Bradley und die 72er-Mannschaft der Knicks bewundert, Willis Reed, Earl Monroe und Walt Frazier.
Wolf Lepenies weiß also, wovon er spricht, wenn er über Basketball spricht. Er ist ein kluger, begeisterungsfähiger Mann, wir geraten direkt in enthusiastische Fachsimpelei. Lepenies erzählt, wie er Nowitzki und Geschwindner einmal beim Training zugesehen habe, 75 Minuten Würfe ohne Unterlass, beeindruckend, allerbeste Schematik! »Geschwindner ist im tollsten Sinne verrückt, mir imponiert sein Denken vom Maximum her«, sagt er. »Wo unsereiner vom Durchschnitt her denkt, sind die beiden gnadenlos. Sieben Treffer von zehn Würfen heißt für sie: drei Fehlwürfe. Sie wollen zehn Treffer.«
Die Meisterschaft hat Lepenies nachts am Computer verfolgt, beim letzten Spiel hat er sogar kurz vor Schluss seine Frau geweckt – das habe sie einfach sehen müssen. Danach hat er über Nowitzki geschrieben. Für Lepenies ist er weit mehr als ein Star: »Nowitzki hat Größe«, sagt er, das sei etwas grundsätzlich anderes. Lepenies bringt Pierre Bourdieu in Anschlag. Nowitzki habe ein beeindruckendes kulturelles und soziales Kapital, er sieht ihn in einer Reihe mit Fritz Walter, Max Schmeling, Uwe Seeler und Franz Beckenbauer. Ihre Niederlagen lassen uns trauern, ihre Siege empfinden wir als Gerechtigkeit.
Das Gespräch treibt von Nowitzkis Größe zu seiner Bodenständigkeit, zu Begriffen wie Ehrlichkeit, Inszenierung und Authentizität – und plötzlich analysieren wir Nowitzkis Hochzeitsfoto, als wäre es Jan van Eycks Arnolfini-Hochzeit, den Schnitt des Anzugs, den dezenten Schmuck der Braut. »Vielleicht geht das jetzt zu weit bei Nowitzki«, sagt Wolf Lepenies und lacht, »aber dieses Bild ist kein Starfoto, es ist nicht nur Style. Man ahnt einen Kern, an dem man nicht rühren kann. Das ist diffus, aber da ist irgendetwas, das ›richtig‹ ist. Lauter. So etwas ist selten: Lauterkeit.« Lepenies sieht aus dem Fenster auf den Basketballkorb. Er denkt nach, er lächelt, er kehrt zum Thema zurück. »Dirk Nowitzki«, sagt Lepenies, »ist eine unserer ganz großen Sportgeschichten.«
Anfang September rase ich wieder zu einer Halle, diesmal fährt Nowitzki. Wir sind auf dem Weg zum Training, morgens um neun, die Strecke vom Haus seiner Eltern zur Trainingshalle in Rattelsdorf kennt er im Schlaf, er fährt sie schon mehr als sein halbes Leben lang. »Seit achtzehn Jahren machen wir das jetzt«, sagt er, seit achtzehn Jahren fährt er von Würzburg nach Rattelsdorf, A 7, A 70. Hier ist er auf Händen durch die Halle gelaufen, auf Kästen gesprungen und herunter, zwei, zweieinhalb Stunden am Stück. »Wir haben früher trainiert wie die alten Russen.« Jetzt ist alles dosierter und routinierter. Er habe seine Lehren aus dem letzten Jahr gezogen und den Sommer durchtrainiert, »bisschen gerannt« sei er, um die Spannung zu halten. »Selbst wenn ich Pause mache, kann ich nicht mehr auf null runterfahren.« Er merke sein Alter, sagt er. »Man bezahlt dafür.«
Dirk sortiert seinen Sommer. Er zählt an den Knöcheln seiner Hand ab, welcher Monat wie viele Tage hatte, er lacht, die Erinnerung an die letzten Monate scheint ihm zu gefallen. Seit unserem Treffen ist viel passiert. Zunächst Dallas, weil seine Frau in der Galerie arbeiten musste. Schon eine Woche nach dem Ausscheiden war er wieder im Kraftraum. Anfang Juli dann Feier in Kenia. Trauung in Dallas. Fest in der Karibik. Werbedreh auf Mallorca. Neues Visum. Besuch in Würzburg. »Bisschen Wimbledon geguckt«, sagt er und meint damit nicht, dass er den Fernseher angeschaltet hat.
Kenia sei großartig gewesen, sagt er. Er habe sein Telefon nur sehr selten angefasst, das endgültige Auseinanderbrechen seiner Meistermannschaft habe er deshalb nur durch Zufall mitbekommen. Nur wenn er reception hatte. Nowitzki stockt kurz, manchmal schleichen sich englische Brocken in sein Deutsch, aber er macht sich noch die Mühe, das zu korrigieren: Empfang! Bei Empfang hat er erfahren, dass sein Regisseur Jason Kidd, sein Adjutant Jason Terry und sein bester Freund Brian Cardinal nicht zurückkommen werden. Aber nach vierzehn Jahren in der Liga scheint er solche Dinge ganz nüchtern zu sehen. Letzte Saison ist letzte Saison, jetzt trainiert er für das nächste Jahr. Jetzt geht wieder alles von vorne los. Wenn er über Sport redet, klingt Nowitzki manchmal wie eine Maschine. Er fährt schnell und ruhig, der Wagen riecht neu, die Strecke ist alt.
Vor den Fenstern wird es Herbst, wir rauschen zwischen Pappelreihen und Gladiolenfeldern entlang, ein Hauch von Gold liegt über den Hügeln. Dirk spricht von der jungen britischen Kunst, die seine Frau ausstellt und die er manchmal nicht verstehe, vom Fliegen, das wie Busfahren sei, von den Feierlichkeiten des Sommers. Wir schweigen kurz. Jetzt wäre es an der Zeit, die konkreten Fragen zu stellen, die ich mir zurechtgelegt habe, denke ich, aber ich lasse die Gelegenheit ungenutzt verstreichen. Ich bleibe Beifahrer, wir unterhalten uns gut. »Wir haben während Olympia geheiratet«, sagt Dirk, »wir haben Bolt und Basketball verpasst.«
Kurz hinter dem Ortsschild Rattelsdorf biegt Nowitzki ab und parkt vor einer Turnhalle, wie es sie überall in Deutschland gibt. Jetzt am Vormittag ist der Parkplatz fast leer, ein paar Fahrräder, ein einzelner Pkw. Eine Frau mit Hund und Zigarette nickt uns zu. Keine Kameras, niemand. »Ich habe diesen Sommer fast drei Monate keinen Ball in der Hand gehabt«, sagt Dirk und nimmt einen völlig abgewetzten Lederball aus dem Kofferraum. »Das Teil ist elf Jahre alt, ich habe seit 2001 jeden Sommer damit trainiert.«
Als wir das Spielfeld betreten, ist Geschwindner längst da. Kunststoffboden, kein Parkett. Er trainiert ein paar Zwölf- und Dreizehnjährige, zwei Väter sehen zu. Die Jungs drehen genau die Pirouetten, machen genau die Ausfallschritte, wirbeln den Ball genauso um ihren Körper, wie man es von Nowitzki kennt. Bei einigen sieht das wie Stolpern aus, bei anderen ist es ein Tanz. »Wickel«, ruft Geschwindner, »Innendrehung«, die Anfänge einer Sprache, die er und Nowitzki seit Jahren sprechen. Die Jungs bemühen sich, Dirk zu ignorieren, als er seine Schuhe schnürt, aber als er mit staksigen Schritten das Spielfeld betritt und langsam zu werfen beginnt, wird es still in der Halle. Die Jungs sehen ihm zu, man sieht ihre Gedanken rasen. Ich notiere das Wort »andächtig«. Nowitzki wirft und wirft und trifft die ersten 21 Würfe. Wir alle zählen mit.
Wenn Nowitzki und Geschwindner trainieren, herrscht Schweigen. Die beiden haben diese Laufwege und Übungen in den letzten Jahren, Jahrzehnten so oft absolviert, dass fast keine Worte nötig sind. Ein Rennpferd und sein Trainer. Dirk wirft, Holger passt. Holger nickt, Dirk versteht. Wir beobachten ein Ritual, das Geräusch des uralten Basketballs ist ein Mantra, swish, swish, immer wieder. Dirk wird schneller und schneller, springt höher, trifft besser, die Konzentration füllt die Halle.
Keiner von uns ist jemals so gut gewesen, und keiner von uns wird es jemals werden. Die Wahrheit über Dirk Nowitzki liegt in seinem Kofferraum: der uralte Basketball, millionenfach geworfen und gedribbelt, fast schwarz vor Schweiß und Hallenstaub. Wenn man diesen Ball in den Händen hat, wird einem klar, warum Dirk Nowitzki ein so unfassbar guter Basketballspieler geworden ist.
Nowitzki hat alles, was andere Spieler zum Aufhören, zur Stagnation verleitet: Geld, Ruhm, Auszeichnungen. Interviews, Interviews, Interviews. »Aber diese Sachen haben mich nie interessiert«, sagt er, und wenn man ihn trainieren sieht, glaubt man ihm. Man glaubt der Geschichte vom bescheidenen Superstar, man glaubt an Bodenständigkeit, an Konzentration, man glaubt an die Kraft der Normalität, sogar an Gerechtigkeit. Die Jungs wollen werden wie er. »Ich wollte immer Basketballspieler sein«, sagt er, »nicht mehr und nicht weniger.«
Wahrscheinlich muss ich gar nichts Neues über Dirk Nowitzki sagen: Er ist wie wir. Nur viel, viel besser.