FORTYONE: Herr Hüther, hat Dirk Nowitzki eine persönliche Bedeutung für Sie? Wir haben sie ihn wahrgenommen?
Gerald Hüther: Bis zu unserer ersten Begegnung habe ich immer nur indirekt etwas über ihn gehört, aber mein Eindruck war durchaus, dass er ein sehr ehrgeiziger Mensch ist und Ziele hat, die er auch konsequent verfolgt. Mir schien es auch so, dass er kluge Berater und Mentoren hat, die ihn so gut begleiten, dass er das, was er will, auch tatsächlich umsetzen kann. Einmal bin ich Dirk auch persönlich begegnet. Bei einer großen Abendveranstaltung standen wir gemeinsam auf der Bühne und haben uns vor dem Auftritt ein wenig unterhalten. Er wurde dann allerdings von sehr vielen Menschen belagert. Mein Eindruck war, dass er ein sehr gutmütiger Mensch ist, der gern hilft und unterstützt und bereit ist, sich auf vieles einzulassen. Es wird aber außerordentlich viel an ihn herangetragen und von ihm erwartet. Dem kann er nicht wirklich gerecht werden und dieser Umstand macht ihn wahrscheinlich auch nicht so ganz glücklich.
Es gehört natürlich zu seinem Beruf, sich auch solchen Situationen zu stellen. Ist das Wort »gutmütig« für Sie hier eher positiv oder negativ konnotiert?
Das meine ich sehr positiv, das negative Extrem wäre bösartig. Dirk ist sehr liebevoll und zugewandt und möchte niemanden verletzen. Aber wenn so viele mit ihren Anliegen auf ihn einstürmen, ist es nicht möglich, die nötige Präsenz aufzubringen, derer es bedürfte, damit sich jeder gesehen und gehört fühlt. Das kann niemand leisten. Das kenne ich aus eigener Erfahrung.
»Präsenz« ist hier wahrscheinlich ein zentraler Begriff. Wenn 150 Menschen ihr Anliegen vorbringen wollen, ist es natürlich eine riesige Herausforderung. Wie kann man denn in solchen Situationen präsent sein? Ist das überhaupt möglich? Oder ist es womöglich sogar besser, sich abzuschotten?
Das Beste, was man machen kann, ist ehrlich zu sein. Bevor man jemanden mit seinem Anliegen zwischen Tür und Angel oder beim Pinkeln abfertigt, wäre es besser zu sagen: »Ich würde Ihnen gerne weiterhelfen, aber so spontan geht das jetzt nicht. Bitte schildern Sie mir ihr Anliegen per E-Mail, und wenn ich etwas tun kann, melde ich mich.« Das bedeutet nicht, dass man die betreffende Person abwimmelt, sondern dass man sie mit dem, was sie will, ernst nimmt und ihr respektvoll begegnet.
Sie sprachen vorhin von Dirks Mentoren und Beratern – meinten Sie damit Holger Geschwindner?
Genau, Holger Geschwindner muss ihn sehr gut geführt und ihm gut geholfen haben, sich selber zu führen.
Kommen wir zu den Projekten der Dirk Nowitzki-Stiftung. Heute Nachmittag haben die Absolventen der Teammentoren-Ausbildung ihre Arbeit vorgestellt, darunter auch Dirks Schwester Silke Mayer, die ein sehr erfolgreiches Basketball-Team als Mentorin begleitet hat. Können Leistungssport und persönliche Entwicklung Hand in Hand gehen?
Ich finde, dass jedem Menschen Möglichkeiten geboten werden müssen, sich selbst und auch anderen zu zeigen, was er oder sie draufhat. Aus Untersuchungen weiß man ja, dass jedes Kind mit diesem Bedürfnis bereits zur Welt kommt. Es will sich den Herausforderungen des Lebens stellen, und das ist die angeborene Grundlage der Leistungsbereitschaft von uns Menschen. Kein Dreijähriger will einen mittelmäßig hohen Turm bauen. Sondern immer den höchsten. Und wenn ein Kind auf einen Baum klettert, dann immer auf den größten und immer bis nach ganz oben. Leistungsbereitschaft ist deshalb nichts, was man Kindern beibringen muss. Sie brauchen dieses an die Grenzen gehen, weil es ihnen ein Gefühl für ihre eigenen Möglichkeiten bietet. Eine Gesellschaft ist gut beraten, wenn sie Kindern in unterschiedlichsten Kontexten die Möglichkeit bietet, sich und anderen zu zeigen, was sie draufhaben.
Damit junge Menschen ihre Potenziale entfalten können und sich mit ihren Interessen mutig einbringen, braucht es starke Teams, die die Mädchen und Jungen kreativ beteiligen, sie in ihrer unverwechselbaren Art annehmen und sie ihre Bedeutung für die Gemeinschaft spüren lassen. TeamMentoren spielen dabei eine wichtige Rolle, wenn es darum geht, diese Teamprozesse vertrauensvoll zu begleiten. Sie schaffen für Teams aus Schule, Sport und Freizeit ein starkes Gemeinschaftserleben und damit beste Voraussetzungen für ein faires und erfolgreiches Für- und Miteinander.
Die Dirk Nowitzki-Stiftung setzt auf die hohe Initiativkraft von Sport und Spiel und bildet TeamMentoren aus, die junge Teams kompetent und hoch motiviert begleiten können. Der erste Ausbildungszyklus wurde in Kooperation mit der Akademie für Potentialentwicklung e. V. durchgeführt.
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Zu diesen unterschiedlichen Kontexten gehört auch der Sport?
Ja, aber jedes Kind ist unterschiedlich, kommt schon mit jeweils besonderen Begabungen und Talenten zur Welt. Deshalb ist es nicht sehr günstig, wenn in der Gesellschaft, in die sie hineinwachsen, nur ganz bestimmte Sportarten besonders gewürdigt und hoch bewertet werden. Dann laufen schon Kinder Gefahr, sich auf die eine Disziplin zu fokussieren, die gerade »in« ist. Trends bedeuten Zuflüsse von Interessenten, die dann beispielsweise das Tennis, der Basketball oder der Fußball bekommt, sie haben aber nichts mit wirklicher innerer Begeisterung für diese Sportart zu tun. Wer sich von dem Sog dieser äußeren Anerkennung anziehen lässt, dem geht es sehr wahrscheinlich viel mehr um Ansehen, um Einfluss und Bedeutung als um diese jeweilige sportliche Betätigung. Die ist dann eigentlich gar nicht sein Ding, dabei fühlt er sich nicht wirklich in seinem Element und das kommt dann auch nicht wirklich aus ihm heraus. So etwas hilft einer Person nicht, eine selbstbewusste und starke Persönlichkeit zu werden.
Wie könnte so ein Ansatz im hochkompetitiven Profisport funktionieren?
Das ist schwierig. Wir leben in einer Zeit, in der man mit vielem Geld verdienen kann und dazu gehört auch Sport. Nehmen wir Golf zum Beispiel. Wenn es Golfturniere gibt, bei denen ein Preisgeld zu gewinnen ist, dann nehmen wahrscheinlich viele der Teilnehmer nicht nur daran teil, weil sie gerne Golf spielen, sondern weil sie hoffen, zu gewinnen und damit Geld zu verdienen.
Beim Profisport geht es ja auch immer um gesellschaftlichen Aufstieg und Ansehen.
Stimmt genau. Es geht darum, Anerkennung zu gewinnen, in Ranglisten auf die vordersten Plätze zu kommen, den eigenen Marktwert zu steigern und entsprechende finanzielle Mittel zu erwirtschaften.
Wäre es denn aus Ihrer Sicht theoretisch überhaupt möglich, sich einer Sache derartig zu verschreiben und nach Exzellenz zu streben, ohne dabei an Geld, Ruhm und Anerkennung zu denken?
Klar gibt es dafür Beispiele, und die findet man auch im Sport, aber eben in diesen besonderen Disziplinen, die keine öffentlich Aufmerksamkeit finden. Bogenschießen zum Beispiel, oder Curling oder Angeln. Oder nehmen Sie Bergsteiger und Kletterer, es gibt viele Menschen, die Höchstleistungen vollbringen, ohne dass ihre Leistung anerkannt ist oder ihre Tätigkeit attraktiv gefunden wird. Vor diesen Menschen habe ich eigentlich eine viel größere Hochachtung als vor Leuten, die eine bestimmte Sportart ausüben, weil sie damit um so mehr Bedeutung erlangen, je höher sie auf der Erfolgsleiter nach oben klettern.
Wie geht es denn dann Ihrer Meinung nach mit dem Leistungssport weiter?
Wir sind vernunftbegabte Wesen, die vorausschauend denken können. Deshalb können wir uns einfach mal fragen, wohin das mit dem Leistungssport führen soll. Nehmen wir eine einfache Disziplin, bei der die Leistung noch nicht so sehr von Geräten abhängt, die dabei eingesetzt werden – beispielsweise 100-Meter-Lauf oder Hochsprung. Da gibt es ja eine durch unsere Anatomie vorgegebene Grenze, irgendwann ist Schluss, schneller und höher geht es dann nicht mehr. Spätestens dann stellt sich die berechtigte Frage, wie sinnvoll alle weiteren Anstrengungen nun noch sind. Was bringt es, ein ganzes Leben daran zu hängen, dass man mit einer Hundertstelsekunde oder einem Millimeter Vorsprung Weltmeister wird? Das hat dann einfach nichts mehr damit zu tun, dass wir als Menschen unser Potential erkunden und herausfinden wollen, wie schnell man als Mensch laufen, wie hoch man springen kann. Das haben wir uns längst bewiesen. Wir könnten uns interessanteren Dingen zuwenden.
Das kann der klassische Fall sein: Jemand denkt, wenn ich die 100 Meter in 9,49 Sekunden schaffe, verdiene ich damit etliche Millionen.
Ja, aber da geht es ja wieder nur um Ansehen und Geld, nicht um Sport. Es gibt eben diesen Deckeneffekt in Bezug auf sportliche Leistungen – einige Zeit kann man etwas ständig weiterentwickeln und immer besser werden, aber irgendwann ist man an der Obergrenze angekommen. Und nur mit einem irrsinnigen Aufwand lassen sich dann noch ein paar Zentimeterchen rausschlagen. Aber was man dann noch erreicht, hat mit Sport nichts mehr zu tun, sondern nur noch mit Geschäft, der Suche nach Bedeutsamkeit und Anerkennung und dem Bedürfnis, gegen andere zu gewinnen und sich damit eine gute gesellschaftliche Position zu verschaffen. Das ist auch durchaus verständlich. Aber es ist dann eben so ähnlich wie bei einem Künstler, der seine Bilder nur deshalb malt, um sie möglichst gut auf dem Kunstmarkt abzusetzen. Da geht es ums Geschäft, nicht um die Kunst.
Können Sie das genauer erklären?
Es gibt zwei treibende Gründe dafür, dass Menschen nach Ruhm und Macht und Reichtum streben: Der eine kommt aus der frühen Kindheit und gilt für Mädchen wie für Jungen, die in einem Elternhaus aufwachsen, wo sie nicht das Gefühl haben, um ihrer selbst willen schon bedeutsam genug zu sein. Manche Kinder haben dieses Gefühl: Die fühlen sich um ihrer selbst willen bedeutsam genug und haben deshalb auch nicht das Bedürfnis, sich anzustrengen und besondere Leistungen zu vollbringen, um anderen zu zeigen, wie bedeutsam sie sind. Aber sie haben natürlich ein großes Interesse daran herauszufinden, wie schnell sie laufen können, wie hoch sie springen können und selbstverständlich wollen sie sich auch mit anderen messen. Aber sie üben ihren Sport nicht aus, um bedeutsamer, reicher, anerkannter zu werden.
Der zweite Treiber ist die Partnerwahl der Frauen. Der US-amerikanische Wissenschaftler David Buss hat weltweit die Kriterien bei der Partnerwahl untersucht: Männer wählen Partnerinnen sehr stark nach dem Kriterium »physical attractiveness« aus. Wenn diese sexuelle Selektion über viele Generationen so abläuft, werden die Frauen in ihrer äußeren Erscheinung dem Bild immer ähnlicher, das Männer eines bestimmten Kulturkreises von »attraktiven Frauen« haben. Den Frauen geht es bei der Partnerwahl eher um »social status« – sie wählen also lieber Männer aus, die es möglichst weit gebracht haben, die hohe soziale Anerkennung genießen, möglichst viel Geld haben oder auch Macht und Einfluss.
Gilt das für jeden einzelnen?
Selbst wenn man bedingungslos geliebt worden ist und dieses Empfinden für die eigene Bedeutung hat, kann es einem passieren, dass man trotzdem noch nach mehr Bedeutsamkeit strebt. Man weiß ja, dass Frauen einen dann noch attraktiver finden und man als Partner noch bessere Karten hat.
Die Fußball-WM 2018 ist ein fabelhaftes Beispiel für die Kehrseite des Profisports. Was würden Sie dem Coach raten?
Die Spieler waren einem immensen Erwartungsdruck ausgesetzt, den auch der Coach mit aufrechterhalten hat. Sie haben daran geglaubt oder so getan, als ob sie daran glaubten, dass sie sehr gut sind und wieder Weltmeister werden können. Doch von Spiel zu Spiel und vor allen nach den ersten 20 Minuten des letzten Spiels in der Vorrunde ist auch dem letzten Spieler auf dem Feld klar geworden, dass das nicht zu klappen scheint. Und dann ist Panik ausgebrochen. Das war übrigens bei der letzten Weltmeisterschaft den Brasilianern im Spiel gegen Deutschland auch so passiert.
Ist es denkbar, dass eine Mannschaft auf dem Niveau und unter der Lupe der Öffentlichkeit überhaupt noch spielt? Im besten Sinne des Wortes?
Ich hatte diesen Eindruck lange von der Mannschaft aus Island. Bei ihnen hatte ich das Gefühl, dass sie aus lauter Lust spielen, sehr frei, ohne Druck, fantasievoll und kreativ – und dann bekommen sie eben auch teilweise Dinge hin, die man ihnen gar nicht zutraut. Und als Nebeneffekt dieser anderen Einstellung zum Spiel gewinnen sie. Aber das ist sehr selten. Und solche Teams werden im großen Sportgeschäft schnell vereinnahmt.
Holger Geschwindner und Dirk Nowitzki sagen manchmal, dass das Basketballspiel selbst ein Ort größter Freiheit ist. Der Moment, in dem man die Halle betritt, als ein Moment der Befreiung.
Das kann sein und ich glaube auch, dass das funktioniert. Das wird stark an Holger Geschwindner liegen. Das ist eine Situation, in der Nowitzki in einen Bereich geht, in dem er völlig präsent ist. Da ist er zu Hause, da kennt er alles, da traut er sich was zu und es gelingt ihm, diesen Raum im besten Sinne als Spiel-Feld wahrzunehmen. Da drin läuft alles. Es wird dann sogar so sein, dass er dort noch nicht einmal unter diesem Leistungsdruck steht. So gelingt ihm vieles, weil es reine Lust ist, aus der heraus er spielen kann. Vielleicht ist das Nowitzkis Erfolgsgeheimnis: Er schafft es seit vielen Jahren, die Halle als Befreiungsraum zu erhalten und sich nicht von außen unter Druck setzen zu lassen. Möglicherweise erlebt er den Bereich draußen, außerhalb der Halle als Druckraum und das Spiel selbst als eine eher druckfreie Situation. Das ist wahrlich toll, aber das hat für unsere Fußballspieler vermutlich nicht funktioniert, weil sie medial viel zu sehr bedrängt wurden. Vielleicht eignet sich eine geschlossene Basketballhalle dafür auch eher als ein offenes Fußballfeld. Da hagelt alles rein, was die Anhänger in Deutschland, die Sportjournalisten und Medienvertreter ihnen an Erwartungshaltungen entgegenbringen.
Wie könnte man sich als Sportler und Mensch davon befreien?
Spielen Sie mal mit vier- oder fünfjährigen Kindern Memory. Die gewinnen immer. Wir Erwachsenen versuchen, die Aufgabe kognitiv mit fokussierter Aufmerksamkeit zu lösen. Das heißt, wir strengen uns an und kriegen es nicht hin. Die Kinder machen es, ohne sich anzustrengen, aber sind hochpräsent und haben das Ganze im Blick. Das ist das Geheimnis: der Zustand der absoluten Präsenz und Verbundenheit mit sich selbst und mit dem, was man tut. Und wir müssen uns fragen, warum wir unsere Kinder aus diesem wundervollen Modus herauswerfen, indem wir sie antreiben. So erleben diesen hochkreativen und hochpräsenten Zustand am Ende nur noch wenige Erwachsene: manche Jazzmusiker beispielsweise, oder eben auch ein Basketballspieler wie Dirk Nowitzki. Das ist dann eine Flow-Erfahrung, die sogar über das hinausgeht, was der ungarisch-amerikanische Psychologe Mihály Csíkszentmihályi in seinen Büchern beschreibt.
Wie erreichen Sie als schreibender und denkender Mensch persönlich einen solchen »Flow«?
Man kann als Autor beim Schreiben einen Flow-Zustand erreichen, wenn man mit dem Schreiben zu einer Einheit wird. Dann höre ich nicht, wenn mich jemand ruft und bekomme nichts mehr von der Welt da draußen mit. Man ist für eine gewisse Zeit so mit dem verbunden, was man tut, dass dabei oft sehr beeindruckende Ergebnisse rauskommen. Vielleicht muss so ein Flow aber auch ein seltenes Ereignis bleiben, damit man es wertschätzen kann. Flow ist ein Geschenk.
Der vielfach ausgezeichnete Neurobiologe und Hirnforscher arbeitet seit 2015 im Vorstand der Akademie für Potentialentfaltung. Zu seinen wissenschaftlichen Themenfeldern gehören der Einfluss früher Erfahrungen auf die Hirnentwicklung, die Auswirkungen von Angst und Stress und die Bedeutung emotionaler Reaktionen. Er ist Autor zahlreicher wissenschaftlicher Publikationen und populärwissenschaftlicher Darstellungen, zuletzt erschienen seine Bücher Rettet das Spiel! und Würde.