Wenn ich nach den Voraussetzungen für die Erzielung von Spitzenleistungen gefragt werde beginne ich meine Antwort oft mit einer Frage: Wer von Ihnen ist so genial wie Einstein? Da meldet sich natürlich niemand. Doch dann bitte ich das Publikum, sich selbst auf einer Skala von 0-10 einzuschätzen. Die Mehrzahl der Befragten schätzt sich in der Regel bei fünf ein. Fast alle meinen also, dass sie nur über eine mittelmäßige Kreativität verfügen. Woran liegt diese bescheidene Selbsteinschätzung, die auf einer Unterschätzung des kreativen Potenzials beruht, über das wir alle verfügen?
Die Antwort ist erschreckend: Das derzeit vorherrschende System der uniformen Schulbildung, das – trotz einer wachsenden Zahl positiver Ausnahmen – nach wie vor auf den Prinzipien der industriellen Massenproduktion beruht, zerstört unsere kreatives Potenzial. Während im Silicon Valley »Kollaboration« und »Connectivity« als Schlüssel zum Erfolg betrachtet werden, sortieren unsere Schulen Schüler – ungeachtet ihrer individuellen Voraussetzungen – nach Alterskohorten, die fließbandmäßig vorrücken, wobei der vermeintliche »Ausschuss« (2018 bis zu 4% der Schüler) aussortiert wird. Die Mehrzahl dieser Schüler wird weder in Team- noch Projektarbeit ausgebildet und muss stattdessen zu oft Lösungen von gestern lernen, die mehr denn je nach standardisierten Vorgaben abgeprüft werden. Stattdessen sollten Schulen den Schwerpunkt auf die Ausbildung der 21st-Century Skills (Fadel, Bialik & Trilling 2017) legen, die in kritischem Denken und Problemlösen, in Kommunikation und Kollaboration, Kreativität und Innovation bestehen.
In Team:Flow (Burow 2015) zeige ich, wie wir zu neuen Formen des Teamlernens gelangen können, die diese Zukunftskompetenzen unterstützen. Demnach müssen nicht nur Lehrer, sondern auch Ausbilder und Trainer sich von der Illusion verabschieden, dass alle zur gleichen Zeit das Gleiche lernen. Vielmehr geht es darum, die Lernenden in einem ersten Schritt dazu zu befähigen, ihr »Element« zu entdecken, also die besondere Fähigkeit, Begabung oder Neigung, über die sie verfügen und die sie aus innerem Antrieb vervollkommnen möchten. Denn wie der Gallup-Strength-Finder (Buckingham & Clifton 2014) gezeigt hat, stellt die Entwicklung unserer Stärken den Königsweg zu Spitzenleistungen dar.
Doch dazu muss man kein geborenes Genie sein, denn Untersuchungen zeigen, dass nur jeder siebente Hochleister auch hochbegabt ist. Entscheidend sind Willensstärke und die 10.000-Stunden-Regel: Wir alle können in den meisten Disziplinen in den Bereich von Spitzenleistungen gelangen, wenn wir 10.000 Stunden gezielten Trainings absolvieren. Doch dieses Training ist nur sinnvoll, wenn es unserer Begabung entspricht. Dummer Weise sind Talente nicht frühzeitig erkennbar und vermutlich auch nur begrenzt förderbar, denn Spitzenleistung ist ein Produkt höchster Indvidualität. Doch Untersuchungen zeigen (Possemeyer 2014), dass Spitzenathleten eine Gemeinsamkeit hatten: Sie waren in ihrer Kindheit »Sampler«: Ausprobierer, so konnten sie herausfinden, was ihnen am meisten lag. Ausbilder sollten also Heranwachsende darin unterstützen ihr »Element« zu entdecken. Doch Talenterkennung und Training allein reichen nicht aus, denn in immer mehr Bereichen, sei es im Sport oder in der Wirtschaft, sind Spitzenleistungen nur im Team möglich. In einem zweiten Schritt geht es deshalb darum, herausfordernde, passgenaue Umgebungen zu gestalten, in denen die Lernenden in der Arbeit in kollaborativem Teams ihr Element entwickeln, sich gegenseitig in ihren Stärken und Schwächen ergänzen und kreative Lösungen erarbeiten können.
Wie ich in Team-Flow zeige ist dies das Modell, nach dem es z.B. dem Synergieteam von Steve Jobs und Steven Woszniak gelang, Apple zur wertvollsten und kreativsten Firma der Welt zu machen. Auch Rolls Royce, Google, Microsoft, aber auch die Comedian Harmonists entstanden aus solchen Synergieteams, die aus Personen mit unterschiedlichen Begabungen bestehen. Entscheidend ist, dass es ihnen gelang, ihre unterschiedlichen Fähigkeiten wertzuschätzen und in die Realisierung einer gemeinsam geteilten Vision oder der Umsetzung eines Projektes einzubringen. Hinzu kommt, dass sie zur »richtigen Zeit« am geeigneten Ort waren: So sind z.B. all die Computerpioniere, die wir heute bewundern zwischen 1953 und 1956 im Silicon Valley aufgewachsen. Wo also ist das Kreative Feld, in dem Heranwachsende heute ihre Potenziale entfalten können?
Wie nachfolgendes Schaubild zeigt, kann die optimale Passung von Personen mit unterschiedlichen Fähigkeiten, die ein gemeinsam geteiltes Ziel zu erreichen suchen, zur Bildung eines »Kreativen Feldes« führen, das die Grundlage für Spitzenleistungen bildet.
Entscheidend dafür ist, dass die Mitglieder des Teams nicht nur ihre individuellen Stärken kennen, sondern auch wissen, wo ihre Schwächen liegen. Da das Entwicklungspotenzial aber vor allem in meinen Stärken verankert ist, liegt der zentrale Ansatzpunkt weniger in der Überwindung meiner Schwächen. In einem funktionierenden Team ist dies auch nur begrenzt nötig, denn dort fungieren meine Schwächen als Andockpunkte für Synergiepartner. Jobs war der Visionäre und Woszniak der Technikfreak. Der eine besaß die Vision und der andere das technische Knowhow. Das Beispiel zeigt: Indem wir uns ausgleichen und ergänzen können wir so – auch mit begrenzten Fähigkeiten – zu Spitzenleistungen beitragen.
Wenn ich also mein kreatives Potenzial in einem Team freisetzen will, muss ich mir Fragen folgenden Musters stellen:
In Auswertung dieser Fragen kann ich bestimmen, wie ein für meine Potenzialentwicklung optimale Umgebung und ein geeignetes Team aussehen was die Domäne/Disziplin ist, in der ich mich optimal entwickeln kann und was das für mich passende Feld ist.
Häufig zeigen Personen nicht die optimale Leistung, weil sie sich über ihre Stärken nicht im Klaren sind, ihnen die passenden Synergiepartner fehlen, sie eine Domäne/Disziplin gewählt haben, für die sie zu wenig begabt sind und sich in einer Umgebung befinden, die nur unzureichend auf ihre individuelen Neigungen zugeschnitten ist und sie unzureichend unterstützt.
Lehrer und Trainer, die ihre Auszubildenden optimal fördern wollen, sollten also anhand der Analyse dieser Fragen Förderprogramme und Teamzusammensetzungen so zusammenstellen, dass ein Kreatives Feld entsteht. Dabei gilt: Unterschiedlichkeit erzeugt eine kreative Spannung, die zwar oft Voraussetzung für Spitzenleistungen ist, aber zugleich den Teamzusammenhalt gefährden kann. Denn wie wir gleich sehen werden, macht die Zusammenstellung von begabten »Egos« noch kein Spitzenteam.
Ein Beispiel für die Wirksamkeit des Synergiemodells im Hochleistungssport ist das Tiki-Taka-Spiel der spanischen Fußballnationalmannschaft: Durch ein gezieltes Kurzpassspiel und erhöhten Ballbesitz machte Trainer Vicente de Bosco seine Elf zwischen 2008 und 2012 zum zweifachen Europameister und Weltmeister. Erst als sich auch die deutsche Mannschaft von der Philosophie des Einzelstars verabschiedete und stärker auf das Zusammenspiel setzte, wurde die spanische Vorherrschaft gebrochen.
Aus Sicht der Theorie des Kreativen Feldes ist der Weltmeistertitel dieser »Mannschaft« die logische Folge eines konsequenten Team-Flow-Prozesses.
Nebenstehendes Schaubild, in dem Netzwerkforscher die Häufigkeit des Ballbesitzes und das Muster der Kooperation verschiedener Mannschaften verglichen haben, illustriert meine These: Während in der damaligen deutschen Mannschaft der Ball vor allem zwischen fünf Spitzenspielern wechselte, mußten sich die anderen Mitspieler mit vergleichsweise wenigen Ballkontakten begnügen. Ganz anders das Bild bei der spanischen Mannschaft: Hier wurde fast jeder einbezogen umd die Ballkontaktbilanz war ausgewogen.
Der MIT-Forscher Alex Pentland (2014) hat nicht nur Kreditkartendaten und Telefonverbindungen ausgewertet, um zu zeigen, wie der optimale Ideenfluss organisiert sein muss, damit Kreativität und Innovation möglich werden. Er hat auch Mitarbeiter von Firmen mit Beepern ausgestattet, mit den sie melden mußten, mit wem sie wann am Tag Kontakt hatten. Das Ergebnis hat er in folgender Graphik dargestellt, die verblüffende Übereinstimmungen mit der Fußballgraphik aufweist. Die linke Graphik zeigt ein traditionelles Führungs- bzw. Teammodell, in dem die »Führer« miteinander kommunzieren und die übrigen Mitglieder vernachlässigen. Die rechte Graphik zeigt die optimale Führungs- bzw. Teamstruktur.
Pentland hat Unternehmen, die diese Führungsstrukturen aufwiesen miteinander verglichen und kann zeigen, dass Organisationen, die dem rechten Muster ähnlich der Fußballgraphik folgen, wirtschaftlich erfolgreicher sind und einen höheren Aktienkurs aufweisen. Die neue Wissenschaft, die erklären kann, warum eine ausgeglichene Beziehungstruktur, verbunden ist mit einem Konzept »Wertschätzender Führung« (Burow 2018), überlegen ist, bezeichnet er als »Social Physics«.
Fassen wir zusammen: Ganz gleich ob Spitzenphysiker, Digital-Pionier oder Top-Sportler: Diese – für ihre jeweilige Domäne als »Genies« geltenden – Personen konnten sich, wie die nähere Analyse erweist, stets auf ein starkes Team stützen und wie ich zeige, sind alle großen Erfindungen der Vergangenheit wie auch die meisten Spitzenleistungen bei genauerer Analyse letztlich Resultate des Zusammenwirkens vernetzter Individuen gewesen. Jeder von uns kann zu Spitzenleistungen beitragen, wenn er darin unterstützt wird, sein Element zu entdecken, angeleitet wird, die passende Disziplin zu wählen und Mitglied eines wertschätzend geführten Teams wird. Nur gemeinsam in einem gleichberechtigten Team sind wir stark!
– Buckingham, M. & Clifton, D.O. (2014): Entdecken Sie Ihre Stärken jetzt! Das Gallup-Prinzip für individuelle Entwicklung und erfolgreiche Führung. München. Gallup.
– Burow, O.A. (2018): Führen mit Wertschätzung. Der Leadership-Kompass für mehr Engagement, Wohlbefinden und Spitzenleistung. Weinheim: Beltz.
– Burow, O.A. (2015): Team-Flow. Gemeinsam wachsen im Kreativen Feld. Weinheim: Beltz.
– Fadel, C., Bialik, M. & Trilling, B. (2017): Die vier Dimensionen der Bildung: Was Schülerinnen und Schüler im 21. Jahrhundert lernen müssen. Hamburg: ZLL21.
– Pentland, A. (2015): Social Physics. How social networks can make us smarter. Penguin Books.
– Possemeyer, I. (2014): »Die Talentsuche«. In: Geo 3, 2014, S.112-128.