Zwei Erfinder

Trainer und Spieler. Wissenschaftler und Rechenbeispiel. Mentor und Mentee. Freunde. Dirk Nowitzki und Holger Geschwindner haben eine ganz besondere Beziehung. Der Philosoph Gunter Gebauer hat für FORTYONE in die Sportgeschichte geblickt und bei dem legendären Karl Adam und seinen Ruderern unerwartete Parallelen entdeckt.

Von Holger Geschwindner hörte ich zum ersten Mal, als Dirk Nowitzki gerade seinen ersten NBA-Vertrag unterschrieben hatte. Geschwindner gab dazu ein Interview im Deutschlandfunk. Ich hatte den Eindruck: Hier spricht jemand mit vollem Risiko über die Zukunft eines Sportlers, an den er glaubt. Er erzählte von Nowitzkis einzigartiger Begabung, die von seiner Charakterstärke und Reife auf Kurs gehalten werde. Obwohl er noch sehr jung sei, könne man ihn in die USA schicken: Dirk werde seinen Weg gehen und ein ganz Großer werden. Seine Worte waren eher eine Prophezeiung als eine Prognose. Es schien mir außergewöhnlich, dass ein offensichtlich kluger Trainer seinem jungen Schützling so viel zutraute. Ich dachte: Behalte ihn doch noch zwei, drei Jahre länger bei dir! Aber warum auch immer, seine Worte klangen überzeugend. Und dann dachte ich: Was für ein Vertrauen muss der Trainer in seinen Schützling haben, dass er ihn gehen lässt, weil es vermutlich das Beste für ihn ist.

Trainingspause vor der NBA Saison 2012/13

Persönlich kennengelernt habe ich Holger Geschwindner nie, aber ich habe über ihn gelesen und Filmaufnahmen gesehen, wie er mit Dirk Nowitzki arbeitet. Mit einem herkömmlichen Training hatte das nichts zu tun – alles war neu durchdacht, individuell an den Athleten angepasst, auf einer bestimmten Idee von Basketball aufgebaut. Ich war schon immer fasziniert von Trainern, die ihren Sport neu denken. Damit meine ich nicht, dass sie ihn neu erfinden. Das wäre auch der falsche Weg. Die Sportart mit ihrem Ziel, ihren Regeln, ihren Bewegungsabläufen gibt es schon, bevor der Trainer sich mit ihr beschäftigt. Aber alles andere ist veränderbar: Techniken, Trainingsrhythmus und -methodik. In der engen Beziehung zwischen Trainer und Athlet wird eine gemeinsame Vorstellung davon entwickelt, was Basketball sein soll, ein Konzept des Basketballs – oder philosophisch ausgedrückt: ein mentales Objekt. Als ausgebildeter Mathematiker und Physiker ist Holger Geschwindner gewohnt, mentale Konzepte zu entwickeln und mit ihnen umzugehen. Als Basketballer weiß er, wie man sie in praktisches Handeln umsetzt.

Eine solche Verbindung von konzeptuellem Denken und praktischem Handeln habe ich vor vielen Jahren auch bei einem anderen Trainer kennengelernt, bei Karl Adam, dem legendären Rudertrainer aus Ratzeburg. Auch er war Mathematiker und Sportpraktiker, der eine neue Vorstellung über seinen Sport erdachte. Im Zivilberuf war er Studienrat für Mathe, Physik und Sport an der Lauenburgischen Gelehrtenschule, die oberhalb eines idealen Rudersees gelegen war. Adam war selbst kein Ruderer. Seine Disziplin war die Leichtathletik, damals in den 50er-Jahren die modernste Sportart überhaupt. Das leichtathletische Credo bestand in einer permanenten Steigerung der Leistung durch systematisches, wissenschaftlich fundiertes Training. Vom Trainer wurde es als eine fortwährende Überbietung früherer Leistungen organisiert, bis die Athleten auf dem Saisonhöhepunkt ihre Bestleistung erreichten.

Den Sport neu denken

Für einen Trainer, der das Rekordstreben und die technischen Innovationen der Leichtathleten vor Augen hatte (die O’Brien-Technik des Kugelstoßens und der Straddle beim Hochsprung waren gerade erfunden worden), war das Rudertraining an den Vorstellungen der Vergangenheit orientiert. Die Ideale des modernen Sports waren hier noch nicht angekommen. In den 50er-Jahren des 20. Jahrhunderts wurde Rudern als Schulung einer Gemeinschaft von jungen Männern betrieben, zumeist in den ›besseren Kreisen‹ von akademischen Sportclubs. Am Vereinsleben waren wesentlich die Alten Herren beteiligt; geselliges Beisammensein beförderte die Verbrüderung der Generationen. Gerudert wurde mit einem Studentenmützchen auf dem Kopf, das Training folgte den traditionellen Rezepten, die vor allem Streckenrudern und Schulung des Ruderstils vorschrieben.

Karl Adam, 1968 © Kroon, Ron / Anefo

Karl Adam dachte das Rudern neu: als einen modernen Sport. Als Erstes wurde das gemütliche Vereinsleben durch eine Kultur der Leistung ersetzt. Leistung ist im Detail trainierbar und messbar. Die komplexe Bewegung wurde zunächst in ihre Komponenten zerlegt und analysiert: Arme und Beine haben beim Rudern einen erheblichen Krafteinsatz zu leisten. Sie können außerhalb des Bootes und unabhängig von der Ruderbewegung gekräftigt werden – unter Kontrolle der Trainingsfortschritte. Von seiner eigenen Sportart, dem Kugelstoßen, wusste Adam, wie man durch Hanteltraining nicht nur rohe Kraft, sondern auch Schnellkraft erwerben kann. Beim Rudern wird ja nicht maximale Kraft eingesetzt – beim Start und den Spurts werden auch schnelle Bewegungen vollzogen, die für den Rennerfolg entscheidend sein können. Neben Kraft verlangt Rudern zudem Ausdauer (die Regattadistanz beträgt 2000 m). Auch diese kann man unabhängig von der Arbeit im Boot verbessern, durch Langläufe, mit denen man sich eine Grundlage für die Kondition verschafft. All dies, Kraft- und Konditionsgrundlage sowie Schnellkraft, sind wichtige Komponenten für das Rudern, aber noch wichtiger für die Ruderstrecke sind Kraftausdauer und die koordinierten Bewegungen im Boot. Beides kann man nur durch das Rudern selbst erwerben.

Wenn man im Training nichts anderes als die lange Wettkampfdistanz rudert, erzielt man relativ geringe Trainingsfortschritte. An diesem Punkt dachte Adam wieder von der Leichtathletik her. Im Langstreckenlauf hatte Woldemar Gerschler aus Freiburg mit der sogenannten Intervallmethode große Erfolge erzielt: Trainiert wurde mit kürzeren Strecken, die in hoher Intensität vielfach wiederholt wurden. Diese Methode adaptierte Adam an die besonderen Anforderungen des Ruderns: Training im Boot, mit den Mannschaften, hohe Geschwindigkeit, viele Wiederholungen mit kurzen Pausen. »Kraftausdauer« war der Schlüsselbegriff, den Adam für das Rudern erstmals definierte. Er schuf so anstelle eines Traditionsruderns einen modernen Rudersport und einen neuen Typ des Ruderers, der mit ungleich höherer Intensität trainierte als zuvor und vielfältige athletische Fähigkeiten entwickelte.

Im Zentrum seiner Konzeption des Ruderns stand der Begriff der »Leistung«. Ihm widmete er seine wichtigsten Schriften. Leistung war für ihn in erster Linie eine Einstellung zu der Sache, der man sich widmet: Hingabe und Konzentration, das Streben nach Exzellenz, danach, der Beste sein zu wollen, der Einsatz aller Kräfte, um dieses Ziel zu erreichen. Das gilt nicht nur im Sport, sondern in allen Bereichen, in denen man nach Auszeichnung strebt. Für ihn war es eine Maxime des engagierten Lebens: »Die Struktur der Leistung ist auf allen Gebieten gleich.« Also ist der Sport, in dem man dieses Prinzip zweckfrei und in Reinkultur verwirklicht, das Übungsfeld für gesellschaftliches Handeln allgemein. Als Klassenlehrer brachte er die Maxime zuerst seinen Schülern bei. Er forderte sie, wo immer er sie packen konnte: Besuch in Kohlebergwerken des Ruhrgebiets, in den Sommerferien Lektürekurs von Immanuel Kants Kritik der reinen Vernunft und Rudern in der Schülergruppe. Aus dieser Gruppe gingen mehrere Weltmeister und Olympiasieger hervor. Ratzeburg wurde zum Olympiastützpunkt des deutschen Ruderns und Karl Adam sein Leiter. Sein begabtester Schüler, Hans Lenk, wurde Olympiasieger und Philosophieprofessor.

»Hoch die Physik!«

Wie Holger Geschwindner war Karl Adam einer von jenen Mathematikern und Physikern, die so ganz anders sind als ihre populären Karikaturen. Unter den Kollegen an meiner Universität sind sie die neugierigsten, innovativsten Denker. Die guten Vertreter dieser Fächer sind es gewohnt, die Dinge unter den verschiedensten Blickwinkeln zu sehen, sie im abstrakten Raum des Geistes zu drehen und zu wenden, sie an Stellen zu verschieben, an die vorher niemand gedacht hat, intellektuell zu spielen und dann ganz konkrete Orte für ihre Anwendung zu finden. Im Sport zeigen sie, wie sich die gegebene Wirklichkeit so formen lässt, dass Öffnungen für Neues entstehen. Sie arbeiten nicht manipulativ – ihnen ist die Freiheit des Denkens das höchste Gut. Wie Nietzsche im Aphorismus 335 von Die Fröhliche Wissenschaft schreibt: »Hoch die Physik! Und höher noch das, was uns zu ihr zwingt, – unsre Redlichkeit!«

Wenn es bei ihnen einmal den Anschein der Menschenmanipulation hat, liegt es an der starken Persönlichkeit der »Physiker«. Wer ihnen aber standhält, hat alle Chancen, selbst groß zu werden. Und nicht nur als herausragender Sportler, sondern auch als Persönlichkeit. Holger Geschwindner hat mit Dirk Nowitzki einen neuen Typ Spieler geschaffen, der auch jenseits des Spiels Maßstäbe setzt. Karl Adam konstruierte neue dynamische Bootsformen, neue Riemen und Ruderblätter, um die Hebelwirkung zu optimieren. Als Lehrer forderte er seine Schüler heraus, reizte sie zum Widerspruch mit dem Ziel, mündige Athleten zu formen. Das ging manchmal bis zur Grobheit. Er wollte mehr als den erfolgreichen Sportler: »Wenn man nur sportfixiert bleibt, bleibt man ein Würstchen.«

Ich nehme an, dieser Satz könnte genauso von Holger Geschwindner stammen. Schließlich hat er meines Wissens seine Spieler stets dazu angeregt, sich auch mit anderen Dingen zu beschäftigen, mit Literatur und mit Musik. Wie Adam ist er mehr als nur ein Coach – ein Mentor, der nicht nur den Sportler ausbilden will, sondern den Menschen formt. Was ihn vielleicht von Adam unterscheidet, ist sein Witz, wenn ich an sein »Institut für angewandten Unfug« denke. Humor ist ein Zeichen innerer Freiheit. Wer witzig ist, der kann spielen und sich von Konventionen lösen. Es gibt nicht viele Trainer, die das können. Kennen Sie einen Trainer, der witzig ist?

___ von Gunter Gebauer.

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