»Die Haltung zählt«

Christian Luthardt ist Sportpsychologe beim FC Bayern und Referent der GameChanger-Ausbildung. Mit FORTYONE hat er sich über »Führung« im Sport und die Bedeutung eines ganzheitlichen Ansatzes unterhalten.

FORTYONE: Christian, die Leute, mit denen du gegenwärtig in deinem Berufsalltag arbeitest, sind Nachwuchsspieler, keine Profis. In Leverkusen hast du über Jahre mit Profis zu tun gehabt. Wie unterscheidet sich das?

Christian Luthardt: Es unterscheidet sich stark. Allein schon aufgrund des Alltags, den unsere Nachwuchsspieler zu bestreiten haben, die neben dem Fußball meist noch zur Schule gehen und alle auf diesen Traum hinfiebern. Im Nachwuchsbereich steht die mittel- und langfristige Entwicklung stärker im Mittelpunkt, während im Profigeschäft der Fokus oft mehr darauf gerichtet ist, im nächsten Spiel die optimale Leistung abzurufen. Und das verändert natürlich auch die Arbeit mit den Sportlern.

Was sind denn die Wünsche und Ziele der jungen Coaches, mit denen du bei der GameChanger-Ausbildung des 41Campus gearbeitet hast?

Ich muss sagen, ich war sehr, sehr angetan von der Gruppe, als ich das Modul in Würzburg mit ihnen gemacht habe. Weil einfach zu spüren war, dass sie eine unglaubliche Begeisterung haben für das, was sie machen. Dass sie das teilweise in ihrer Freizeit machen, ehrenamtlich, und trotzdem dazulernen wollen und sehr offen sind für neue Ideen, neue Ansätze. Das hat mich sehr begeistert.

Ihr habt über das Thema »Führung« geredet. Kannst du kurz erklären, was der Inhalt deines Moduls war? Oder deiner Arbeit mit ihnen?

Wenn man etwas über Führung liest, dann liest man sehr viel über Rezepte: Was macht eine gute Führungskraft, was macht ein guter Trainer? Für mich ist es ganz wichtig, mit den jungen Trainerinnen und Trainern darüber zu sprechen, welche Rolle ihre innere Haltung dabei spielt. Dass es nicht so sehr darum geht, was ein Trainer macht oder wie er es macht, sondern vor allem darum, von wo er es macht, sprich: mit welcher inneren Haltung er seinen Spielern und seiner Aufgabe begegnet. Das hat viel damit zu tun, dass man sich selbst reflektiert, dass man hinterfragt, welche Art von Beziehungen man aufbaut und wie man zu Sportlern in Beziehung tritt. Und dann ging es auch um Kommunikation, um werteorientiertes Führungsverhalten und die Gestaltung von Lernkontexten in Trainingseinheiten oder bei Wettkämpfen.

Hast du schon Feedback von den Teilnehmern bekommen, was deine Arbeit in ihrem Alltag bewirkt hat?

Mein Workshop hat dann sein Ziel erreicht, wenn man sieht, dass sich bestimmte Dinge in den Alltag haben transportieren lassen und wenn die Anregungen aus dem Workshop die Arbeit der Trainer bereichern. Und ich hoffe natürlich, dass ich den jungen Trainern wertvolle Impulse und Fragen mitgeben konnte.

Christian Luthardt im Interview mit FORTYONE

Kommen wir zu Dirk Nowitzki. Die GameChanger-Ausbildung beruht ja zu einem Teil auf seinen Erfahrungen mit Mentoraten und Weitergabe von Ideen und Methoden. Du bist ja fast exakt sein Alter. Hast du seine Karriere verfolgt?

Ja! Am Anfang war es so, dass man mitbekommen hat: OK, da geht ein junger Deutscher in die NBA. Kurz vor dem Studium habe ich angefangen, mich mehr für Basketball zu interessieren, neben der NBA auch für die NCAA. Und dann habe ich mir die Nächte um die Ohren geschlagen. Und ich habe natürlich immer mehr von Dirk mitbekommen und habe mir auch einige NBA Finals mit Freunden zusammen angeschaut. Auch wenn die Uhrzeit nicht immer passend war.

Was ist denn aus Sicht eines Psychologen Dirks Besonderheit, sein Alleinstellungsmerkmal?

Ich habe von unseren U23-Spielern sehr viel gehört, die 2019 einmal in Dallas waren und Dirk dort getroffen haben. Sie waren wirklich nachhaltig beeindruckt von Dirk, von seiner Offenheit und seinem Auftreten. Und über alle Rückmeldungen, die ich bekommen habe, auch über die Gespräche mit Leuten, die mit ihm Kontakt hatten, zum Beispiel Jens Joppich, mit dem ich einige Jahre in Leverkusen arbeiten durfte, erscheint mir Dirk als jemand, der mit beiden Füßen auf dem Boden steht. Der offen ist und dazulernen möchte. Der aufgrund seiner Erfolge eigentlich alles Recht der Welt hätte, zu glauben, er wäre etwas Besonderes, der aber dennoch extrem offen ist und wertschätzend. Ich habe das Bild von jemandem, der Demut besitzt, der sich immer weiterentwickeln wollte und will und der auch anderen etwas zurückgeben möchte.

Sind das Dinge, die auch schon jungen Sportlern schwerfallen? Man hört immer, dass die Spieler heute anders sind als früher. Und Dirk ist natürlich in dieser Hinsicht eine totale Besonderheit, weil er sich das trotz dieser langen Karriere beibehalten konnte.

In dem Bereich, in dem ich arbeite, im Nachwuchsfußball, wirken unglaublich viele Faktoren auf die jungen Spieler ein. Schon sehr früh sind sehr viele Anreize da. Schon Nachwuchsfußballer sind in den sozialen Medien unglaublich präsent. Sponsorenverträge fangen sehr früh an, in einem Alter, in dem der Spieler sich das noch nicht über konstante Leistung erarbeitet hat. Das steht dann eher in Zusammenhang mit dem Potenzial, das man in dem Spieler sieht. Die Spieler können unterschiedlich gut damit umgehen, weil nicht jeder so gefestigt ist, dass er sich von diesen Einflüssen freimachen kann.

Ist es auch deine Aufgabe, die Leute gedanklich freizumachen und einen Fokus zu ermöglichen?

Viele von den jungen Sportlern bekommen unglaublich viel Aufmerksamkeit und Anerkennung für ihre Fähigkeiten als Fußballer. Deshalb halte ich es für wichtig, dass wir sie dabei unterstützen zu verstehen, dass Fußball etwas ist, was sie machen, aber nicht das, was sie sind. Meine Erfahrung ist, je mehr ein junger Sportler sich über sein Talent, seine sportliche Leistung definiert, desto mehr Druck kann sich langfristig aufbauen. Wenn es vielleicht mal nicht so gut läuft, wenn eine Verletzung kommt, wenn schwierige Phasen eintreten, die in einer sportlichen Entwicklung immer dazukommen, dann kann das ein Gewicht im Rucksack sein, das viele daran hindert, wirklich Schritte nach vorne zu machen.

Hast du auch über solche Themen mit den GameChangern gesprochen? Haben die auch SpielerInnen mit solchen Problematiken?

Wir haben über dieses Thema gesprochen im Zusammenhang damit, dass es wichtig ist, ein Verständnis für dein Gegenüber zu bekommen. Und zwar nicht nur für seine sportlichen Fähigkeiten, sondern auch für seine Bedürfnisse, für seine eigene Erfahrung. Dass er auch den Raum bekommt, diese Erfahrung zu äußern und damit zu arbeiten. Denn letztlich kann ich als Trainer nur das coachen, was ich sehe und was mir bewusst ist.

Was bedeutet die Corona-Situation für Leistungssportler? Wie ändert sich dadurch die Arbeit eines Sportpsychologen?

Die Corona-Pandemie ist eine große Herausforderung für uns alle und natürlich auch für junge Menschen, die sich im Leistungssport bewegen. Und jeder Mensch reagiert unterschiedlich auf die Einschränkungen und Belastungen, die durch Corona auf uns wirken. Krisen und herausfordernde Situationen bieten aber immer auch die Gelegenheit, an ihnen zu wachsen und sich selbst besser kennenzulernen. Ich versuche hier, Impulse zu geben und Trainer und Sportler gleichermaßen zu unterstützen. Vieles hat sich dabei notgedrungen in einen virtuellen Kontext verlagert, aber es ist auch Raum entstanden, sich mit wichtigen Themen wie Resilienz, Achtsamkeit und Werteorientierung auseinanderzusetzen, die im hektischen Alltag eines Leistungssportlers manchmal etwas untergehen.

Wie erklärst du dir, dass Dirk über all diese Jahre so stabil bleiben konnte? Hängt das damit zusammen, dass die Mavericks als eines der ersten Teams einen eigenen Psychologen hatten? 

Ich glaube, dass ein Sportler – ein Mensch – immer dann über einen langen Zeitraum stabil glücklich, gesund, leistungsfähig bleiben kann, wenn er breit aufgestellt ist. Wenn er sich nicht zu sehr über Dinge wie Anerkennung definiert oder darüber, was andere über ihn denken. Wenn ihm klar ist, was für ihn selbst wichtig ist und wofür er stehen möchte. Und ich glaube, das ist ein stabiles Fundament, das man jedem jungen Sportler nur wünschen kann.

Und darüber habt ihr natürlich auch mit den GameChangern geredet?

Ja. Es ist wichtig, dass man mehr als nur – jetzt in meinem Bereich – ein Fußballer ist. Mich begeistert an der GameChanger-Ausbildung, dass es in der Ausbildung der Trainer nicht nur darum geht, sportliche Leistung zu entwickeln, sondern Persönlichkeiten, den Charakter eines Sportlers zu formen, den Menschen hinter dem Sportler zu formen. Diesen Anspruch finde ich spannend, wichtig und absolut notwendig.

Gibt es so einen ganzheitlichen Ansatz bereits in Deutschland?

Ich glaube, was die Trainerausbildung betrifft, gibt es da noch großes Potenzial Ich habe im Ausland Vereine gesehen, die den Anspruch haben, ihre Trainer in dieser Art und Weise auszubilden und denen es gelingt, das mit Leben zu füllen. Aber es war auch einer der Punkte, die mich sofort für das ganze Projekt der GameChanger-Ausbildung begeistert haben. Ich glaube, dass wir momentan an einem Punkt sind, wo sich bestimmte Dinge, auch in der Herangehensweise eines Trainers, verändern, und dass es einfach nicht mehr so ist, dass Kinder, Jugendliche genau das machen, was man ihnen sagt. Sondern dass sie danach verlangen, eine eigene Stimme zu haben. Und das wiederum stellt neue Anforderungen an den Trainer, und auf die muss er sich vorbereiten. Und ich bin mir nicht sicher, ob das in allen Trainerausbildungen so berücksichtigt wird. Bei der GameChanger-Ausbildung habe ich diesen Aspekt ganz deutlich wiedergefunden. Deswegen finde ich auch wirklich außergewöhnlich, was da auf die Beine gestellt wurde.

Kann ein solches Programm vielleicht auch eine gesellschaftliche Funktion erfüllen?

Ich finde, dass Sport ein ganz wichtiges und wertvolles Werkzeug sein kann, um Werte zu vermitteln, um Persönlichkeiten zu entwickeln, weil du unglaublich viele Dinge lernst, die du nicht nur im Sport brauchst, sondern auch in ganz vielen anderen Lebensbereichen. Dass du dich in ein Team einordnest und eine gute Selbsteinschätzung deiner Stärken und Schwächen entwickelst. Dass du mit Schwierigkeiten umgehst, mit verschiedenen Herausforderungen. Dass du in der Lage bist, dann dein Bestes zu zeigen, wenn es für dich drauf ankommt. Man kann Dinge lernen wie Demut, wie Hilfsbereitschaft, auch Ehrlichkeit gegenüber sich selbst. Ich glaube, wenn man dieses Potenzial ausschöpft, dann ist Sport ein wertvolles Werkzeug nicht nur für die Leistungsentwicklung, sondern vor allem für die Persönlichkeitsentwicklung von jungen Menschen.

Die GameChanger-Ausbildung richtet sich an die Mentoren, nicht an die Athleten. Was steckt hinter diesem Ansatz?

In meiner Arbeit ist das ganz extrem wichtig, weil ich nicht in der Lage bin, mit den 25 Sportlern einer Mannschaft individuell zu arbeiten. Bei uns im Nachwuchsleistungszentrum gibt es fast 200 Spieler. Der Trainer ist die Bezugsperson, die Person, die den Lernkontext gestaltet, und häufig ein Ansprechpartner, der mit dem, was er sagt, manchmal noch mehr Wirkung erzeugt als die Eltern. Aus meiner Sicht ist es vor allem seine Führungskompetenz, die Kompetenz, wirklich hilfreiche Beziehungen zu gestalten, die den stärksten Effekt hat. Ich finde nicht, dass man das outsourcen sollte, sondern dass der Trainer die entscheidende Person in diesem Prozess ist. Deswegen steht Trainerentwicklung für mich absolut im Zentrum, wenn es darum geht, junge Menschen zu entwickeln oder ihnen bei ihrer Entwicklung zu helfen.

Machst du das auch mit Euren Coaches? Hast du schwierige Fälle, die du individuell betreust, und weist du dann die TrainerInnen in Arbeitstechniken ein?

»Schwierige Fälle« ist so ein Wort, mit dem ich mich schwertue. Häufig ist es so, dass zu Beginn ein Trainer auf mich zukommt und sagt: »Christian, der Spieler, der ist ein bisschen schwierig, kannst du dich mal mit ihm hinsetzen?« Ich sehe den »schwierigen Spieler« als einen Spiegel für das an, was der Trainer noch entwickeln kann. Das heißt, in dem Moment, wo ich mich mit diesem Spieler hinsetze, versperre ich eigentlich dem Trainer seine Entwicklungsmöglichkeit. Mein Ansatz wäre immer der, mich zuerst mit dem Trainer hinzusetzen und zu überlegen, wie er mit dem Spieler anders oder besser arbeiten kann, um Effekte zu erzielen und nicht nur den Spieler zu entwickeln, sondern auch den Trainer.

Wie gehst du denn mit psychischen Erkrankungen um? Spielt das im Alltag eine große Rolle oder geht es eher um Leistungsdruck?

Mentale Gesundheit ist sogar eines meiner Schwerpunktthemen. Es ist tatsächlich so, dass ein großer Leistungsdruck da ist. Aber wenn man sich die durchschnittlichen Wahrscheinlichkeiten von psychischen Erkrankungen auch im Jugendalter anschaut und sieht, dass etwa 50 Prozent der psychischen Störungen ihren Ausgang im Jugendalter nehmen, dann weiß man, dass man in einer Mannschaft mit einer relativ hohen Wahrscheinlichkeit auch auf Spieler trifft, die mit psychischen Erkrankungen zu kämpfen haben. Im Leistungssport kann dies vielleicht sogar mit größerer Wahrscheinlichkeit der Fall sein, durch die hohen Belastungen und die vielen Herausforderungen, die die Jungs bewältigen müssen. Wir versuchen unter anderem dadurch Prävention zu betreiben, dass wir den Jungs die Möglichkeit geben, offen über diese Dinge zu sprechen. Dass sie auch lernen, dass sie das innerhalb ihrer Mannschaft machen können. Dass sie wissen, an wen sie sich bei Schwierigkeiten wenden können. Intern können sie sich an mich wenden – wobei ich kein Psychotherapeut bin. Aber ich habe ein Netzwerk an Psychotherapeuten und kann sehr schnell und unkompliziert ein Erstgespräch ermöglichen. Extern können sie sich aber auch an die Robert-Enke-Stiftung oder andere Stiftungen wenden, um schnell an einen Ansprechpartner zu kommen. Aber ich finde das Thema essenziell. Spannend dabei ist auch: Wenn man sich die Bedingungen für mentale Gesundheit und gleichzeitig auch die Bedingungen für Leistungsentwicklung anguckt, dann gibt es eine unglaublich große Schnittmenge. In dem Moment, in dem ich ein Umfeld aufbaue, wo mentale Gesundheit gefördert wird, baue ich gleichzeitig eines auf, in dem Leistung entwickelt wird. Nicht zuletzt deshalb finde ich dieses Thema extrem wichtig.

Die NBA hat eine Kampagne gestartet, in der ein wirklich prominenter Spieler lange Interviews zu diesem Thema gibt.

Im Fußball gibt es das auch. Ein Beispiel dafür ist der englische Nationalspieler Danny Rose, der während der Weltmeisterschaft über seine Depressionen gesprochen hat. Und genau solche Beispiele helfen uns dabei, junge Sportler für einen offenen Umgang mit diesem Thema zu sensibilisieren. Im Rahmen von Workshops mit unseren Jugendmannschaften konnten wir Spieler unserer Profimannschaft dafür gewinnen, zu Kabinengesprächen zum FC Bayern Campus zu kommen, um von ihren ganz persönlichen Herausforderungen in ihrer Karriere zu sprechen, über ihren Umgang mit Krisen und Drucksituationen. Das war ein besonderes Erlebnis und es zeigte den Jungs: Es ist völlig okay, offen über Deine Gefühle zu sprechen. Und wenn ein Profi des FC Bayern das kann, dann können wir vielleicht auch zugeben, dass wir nervös sind oder Druck haben.

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